Auswanderung der Deutschen
Teil II 1820 - 1917
6 Kulturelles Leben bei den Russlanddeutschen
6.2 Sitten und Bräuche
6.2.5 Volksmedizin
Durch die harten klimatischen Bedingungen wurden Haus- und Volksmittel zu einem wichtigen Bestandteil im Leben der deutschen Kolonisten. Erkältung galt als Ursache der meisten Erkrankungen. Um sich davor zu schützen, trugen die Männer im Winter wie im Sommer dicke Unterhemden und die Frauen ein halbes Dutzend Unterkleider. Wenn trotzdem eine Erkältung eintrat, schützte man den schmerzenden Körperteil zusätzlich mit "Trampeltierwoll" (Kamelwolle).
Die Kolonisten kannten sich in den Kräutern der Steppe sehr gut aus und besiegten damit so manche Krankheit.
Von ärztlicher Hilfe wurde nur im schlimmsten Fall Gebrauch gemacht, denn bis in die 60er Jahre des 19. Jahrhunderts befand sich z.B. in den Wolgakolonien das "nächstgelegene" und einzige Krankenhaus in Saratow. Den weiten Weg bis dahin ersparte man sich nach Möglichkeit, obwohl es unter den Wolgakolonisten gefährliche Erkrankungen, wie z.B. Knochentuberkulose, die schwere und zur Erblindung führende Augenkrankheit Trachom oder Scharlach gab.
Diese Krankheiten bedurften einer sorgfältigen ärztlichen Behandlung.
Einige Semstwos versuchten ab den 60er Jahren, eine medizinische Versorgung der Bevölkerung aufzubauen. Sie setzten diese Aufgabe an die zweite Stelle nach der Volksbildung und sorgten für medizinische Aufklärung, vor allem dafür, das hygienische Verhalten zu verändern, um bestimmten Krankheiten vorzubeugen.
Um 1910 erreichte die medizinische Versorgung durch die Semstwo-Ärzte ihre größte Ausdehnung, fast alle Kolonien konnten erfasst werden. In ganz Russland arbeiteten 3.802 Semstwo-Ärzte; es gab Hospitäler, ambulante Krankenstationen und Apotheken.
Nach einem Bericht von Konrad Keller, "Die deutschen Kolonien in Südrußland", 598ff