Geschichte der Russlanddeutschen

8 Kulturarchiv

8.2.3 Literarisches

8.2.3.4 Schön Ammi von Mariental und der Kirgisen–Michel

Ein Wolga–Steppenbild aus dem 18. Jahrhundert (Gedruckt in: Odessaer Kalender 1915, S. 138–157)

I. Der mächtige Wolgastrom ist in seinem mittleren Laufe von zwei gar verschiedenen Ufern eingegrenzt; das rechte Ufer erhebt sich schroff und hoch, zerrissen und zerklüftet, mit steilen Bergspitzen und schäumenden Waldbächen, die sich durch lockeres Steingeröll hindurch in das gewaltige Wasser ergießen, – dies ist die Bergseite der Wolga. Das andere Ufer ist niedrig und flach, nur allmählich erhebt sich das Land und liegt endlich vor dem Auge als weite, unendliche, unübersehbare, ebene Steppe; da ist kein Berg und kein reißender Waldbach, da ist kein Stein und kein Kiesel, auch kein Baum und kein Strauch weit und breit zu sehen, – nichts als Ebene und immer wieder Ebene, bald mit grünerem, üppigem Grase bewachsen und mit Blumen übersäet, bald in reichen Kornfeldern ihre Fruchtbarkeit an den Tag legend. Nur hie und da hat sich zur wasserreichen Frühlingszeit ein angeschwollener Steppenbach einen tiefen Schluchtweg in den lockeren Erdboden gewühlt, je näher aber zum Sommer, desto mehr verschwindet das Wasser, bis es schließlich entweder nur in einzelnen tieferen Graben und Teichen zu finden ist, oder matt und träge dahinschleicht durch mächtiges Schilf und versumpftes Röhricht. Nur wenig Flüsse, die ein tieferes Bett und einen längeren Lauf haben, können bis in den Herbst hinein strömendes klares Wasser auf ihrem Grunde aufweisen, – solche sind’s denn auch, an deren hohen, steilen Uferrändern noch Laubwald anzutreffen ist, ein herrliches Gottesgeschenk auf baumloser Steppe. Dieses ganze, weite Land ist die sogenannte Wiesenseite der Wolga und erstreckt sich als so geartete Steppe noch weiter über den Uralfluß hinaus bis tief ins Herz Asiens.
  Einer der wenigen Flüsse auf der Wiesenseite, die das ganze Jahr hindurch fließendes Wasser haben, ist der große Karaman, welcher in nächster Nähe der Jeruslan– und Uferquellen entspringt und nach längerem Laufe, etwa 40 Werst oberhalb Saratow, in die Wolga mündet. Von allen Flüssen der Wiesenseite hat der Karaman die steilsten Ufer, aber auch zugleich die schönsten, fast überall noch mit schönen Laubwaldungen bedeckt. Auf seinen Höhen reiht sich eine große Zahl deutscher Kolonien aneinander, im Laufe der Zeit aus ärmlichen Ansiedlungen zu schönen stattlichen Dörfern herangewachsen. Hier sowohl, wie auch weiter oben die Wolga hinauf, bis an die Mündung des Irgisflusses und an die Kreisstadt Wolsk, ferner im Süden von Saratow am Tarlick–, Torgun– und Jeruslan–Flusse, desgleichen auf der Bergseite an die Medweditza, Ilowla, am Karamysch usw. hat sich ein Leben entwickelt, das Jedem, der zum ersten Male sich in dasselbe versetzt fühlt, zwar recht fremdartig, aber dennoch wohltuend entgegentritt, – es ist ein schlichter, einfacher deutscher Bauergeist, der trotz mancher Versetzung mit fremdartigen Elementen in Folge täglichen Verkehr mit den umwohnenden Völkerschaften sich dennoch auf den ersten Blick als deutsch erkennen läßt; auch im Kaftan, auch in dem mit manchem russischen Wort versetzten fremdartigen Dialekt erkennt man den alten Hannjörg und Hannfried der westdeutschen Mutterlande wieder. Die Bauart der Dörfer ist die aus der deutschen Heimat mitgebrachte; auch hier erkennst du den Pfälzer an seinem hochgewölbten, mächtigen Haustor, den Schweizer an seinem Giebeldach; die in mannigfachen Farben prangende, aufs Tor gemeißelte Rose der deutschen Bauerndörfer ist auch hier nicht abhanden gekommen. In dieses einfache deutsche Bauernleben unseres Kolonistenvolks möchten wir die lieben Leser nunmehr einführen.
  Die Entwicklung der Deutschen an der Wolga wäre vielleicht eine ganz andere geworden, wenn der Anfang ihres hiesigen Lebens nicht so gar kümmerlich und gefahrvoll gewesen wäre, bittere Armut, Unbekanntschaft mit dem hiesigen Klima, der Bodenbeschaffenheit und Kultur der Steppe, vor allem aber die räuberischen Einfälle der blutgierigen kirgisischen Nachbarhorden waren gewaltige Hemmsteine ihres Emporblühens; – auf jene erste entsetzliche traurige Zeit, möchten wir in folgendem die Aufmerksamkeit und das Interesse unserer Leser lenken.
  Der Himmelfahrtstag Maria, der 15. August des Jahres 1776, war angebrochen. Die Frühglocke hatte die katholischen Bewohner der am Steilufer des Karaman soeben angelegten Kolonie Mariental zur sonntäglichen Feier geladen. Der Anblick des neuerbauten Dörfchens war noch ein sehr armseliger, man sah nur kleine, aus Lehmsteinen errichtete Hütten, von noch geringeren Nebengebäuden umgeben; ein kleines Kirchlein erhob sich inmitten der Häusergruppe, das vergoldete Kreuz vom lichten Strahl der Frühsonne beleuchtet. Rührig und friedlich war Alles weitum, nur hie und da gingen ein Paar Männer im ernsten Gespräche über die Gasse; auch der schöne Laubwald an beiden Steilufern des Karamanflusses schien mit dem Dörfchen zu feiern, kaum rauschte ein leiser Morgenwind durch die schon herbstlich angewehten Blätter. Von Zeit zu Zeit sprengte ein einzelner Reiter die Hauptstraße hinauf, hielt vor dem Hause des Schulzen und begab sich eiligst in dasselbe, als hätte er dort was Hochwertiges anzubringen.
  Dies war dann auch ein Signal für die umstehenden müßigen Männer, ebenfalls "in's Vorstehers" zu gehen und die neue Kunde des Reiters, die sie lebhaft zu interessieren schien, mit anzuhören. Mit ernsten, bedenklichen Gesichtern traten sie nach einiger Zeit wieder aus dem Hause, sich lebhaft mit einander unterhaltend, – der Bote aber sprengte mit verhängten Zügeln wieder zum Dorfe hinaus. Wohl war’s eine schwere Zeit, sowohl für Mariental, als auch für die benachbarten jungen Kolonien; da tat’s wohl Not, sich ernster Weise zu beratschlagen über die Maßregeln, welche zur Abwehr nahen Unglücks etwa einzuschlagen wären. Schon zwei Mal waren die wilden Kirgisen raubend und mordend in die neubesiedelten Ortschaften an der Nachoi und am Karaman eingebrochen, zum ersten Mal nur 7 Jahre nach Ankunft der Deutschen, im Jahre 1771, wobei die zwei äußersten Kolonien, Thatlewanz und Louis, fast ganz entvölkert wurden; darauf im Frühjahr 1776, – da galt es der Kolonie Mariental allein. – Was sie nur vorfanden an Menschen und Vieh ward teils getötet, teils fortgetrieben, an 300 Menschen waren da in qualvolle Gefangenschaft mit fortgeschleppt worden, von denen Niemand die Seinen je wieder zu Gesicht bekommen hat. Nur der gefangene Pater Johannes von Mariental, welcher 2 ½ Jahre lang in der Horde als Schafhirt hatte dienen müssen, ward allendlich ausgekauft und starb in seinem Vaterlande Polen in einem Kloster. Die Kunde von jenem schrecklichen Plünderungszuge hatte sich schnell an beiden Ufern der Wolga verbreitet, Militär war ausgeschickt worden, um den Räubern nachzusetzen; der kommandierende Offizier war auch schon ziemlich weit in die uralische Steppe vorgedrungen, getraute sich aber nicht in die allzugroße Nähe des eigentlichen Kirgisengebiets und kehrte unverrichteter Sache zurück. Ein Gefühl unendlicher Angst durchzitterte alle Kolonien, da jede fürchtete, daß Schicksal des schwer heimgesuchten Mariental auch an sich zu erleben. Es bildete sich eine kleine Schar deutscher Freiwilliger, den Pastor Wernborner von Katarinenstadt an der Spitze, sie wollte bis in’s Land der Kirgisen hinein und ihre gefangenen Brüder befreien oder mit ihnen zusammen den Tod erleiden. Im Ganzen waren es gegen 150 Mann, alle wohlbewaffnet und gut beritten; zu ihnen stießen noch viele junge und alte Leute aus dem halbzerstörten Mariental und im guten Vertrauen auf Gottes gnädige Hilfe schlugen sie den Weg in die Kirgisensteppe ein. Sie setzten über den Karaman, über die in denselben mündete Metschetnaja und hatten bald die Ausläufer des Obschtschy Syrt, die sogenannten Marzowischen Berge, an denen der Uferfluß seinen Anfang nimmt – Wasserscheide zwischen der Wolga und dem Ural – erreicht, als ihnen ganz unvermutet ein großer Trupp ihrer nomadischen Feinde, an 1000 Mann kirgisischen Volkes, aufstieß. Die große Zahl derselben brachte einen jähen Schreck über die wenigen Deutschen, so daß sie bald vollends den Kopf verloren und mit dem Rufe: "Jesus Maria, wir sind des Todes!" die eiligste Flucht ergriffen. Die Kirgisen hatten anfangs beim Anblick der deutschen Freischaar Halt gemacht, dieselbe verwundert angestaunt und schon alle Vorbereitungen zur Flucht getroffen, denn über allzu viel Mut in offenem Kampfe hatten sie sich jener Zeit nicht zu beklagen; kaum aber wurden sie die Flucht und das Entsetzen gewahr, das über die Deutschen gekommen war, als sie ihnen mit entsetzlichem Gebrüll nachsetzten und, bevor der Abend hereingebrochen war, die meisten derselben in ihrer Gewalt hatten. Die armen Gefangenen wurden nun mit Stricken von Pferdehaar – Hanf und Flachs ist ein gar zu seltener Artikel bei den Söhnen der Steppe, – gebunden, mit Knuten geschlagen, mit Füßen getreten und auf alle erdenkliche Weise gemißhandelt. So brach der Morgen des Tages vor Maria Himmelfahrt, des 14. August 1776, an. Das wilde Volk erhob sich von seinem Nachtlager, bestieg seine leichten Pferde, den Gefangenen wurden noch andere Haarstricke um den Hals gebunden, mit denen man sie an die Sattelknöpfe befestigte und durch entsetzliche Knutenhiebe zum Mitlaufen neben den Pferden antrieb. So mancher arme Deutsche erlag im Laufe dieses furchtbaren Tages den namenlosen Anstrengungen, man hielt sich aber nicht lange bei ihm auf, der zu Boden Gestürzte ward kurzweg mit der Picke durchstochen, seiner Kleidungsstücke beraubt und wie ein Hund auf öder Steppe liegen gelassen. Am Flusse Metschetnaja ward wieder Nachtlager gehalten, – es sollte den Wolgabergen entgegengehen, zur Plünderung der dort belegenen deutschen und russischen Ortschaften. Nach abermals schlaflos durchwachter schauerlicher Nacht, schickten sich die Räuber zum Aufbruche an; die kraftlos am Boden liegenden Gefangenen, denen das Fleisch mitunter bis über die hartzugeschnürten Stricke angeschwollen war, wurden unter den tierischen Mißhandlungen emporgerissen und Mancher verblutete hier unter der Hand seines unmenschlichen Henkers. Der Platz – ein kahler Hügel an der Metschetnaja – steht noch heutzutage in schauerlichem Angedenken bei den umwohnenden Deutschen, und jedes Kind hebt an zu weinen und zu zittern, wenn vom "Kirgisenberg" die Rede geht. Acht Werst vor Mariental auf offener Steppe machten sie Halt und verlangten von den noch übrigen Gefangenen durch Dolmetscher zu wissen, wo denn die nächsten deutschen Orte lägen? Die Gefragten wiesen ihnen einen falschen Weg, schräg in die Steppe hinein, und schon wollten die also Berichteten diese Richtung einschlagen, als plötzlich durch den stillen Augustmorgen ein hellerreiner Glockenton von einer ganz anderer Seite her herüberklang. Es war die Kirchenglocke von Mariental, die soeben am Feste der Himmelfahrt Maria, den 15. August 1776, die Gläubigen zusammenrief zur gottesdienstlichen Feier. Der Ruf des Friedens in der Ferne ward hier zum Signal des Todes und der Marter an den in der Steppe gefangenen Brüdern. Voll Wut, von den Deutschen belogen und betrogen worden zu sein, fielen die Wilden über ihre armen, wehrlosen Opfer her und ließen dieselben in jeder nur erdenklichen Marter die volle Wucht ihres tierischen, ungezähmten Grimmes fühlen. Den ehrwürdigen Pastor Wernborner, der von ihnen für den Häuptling der Deutschen gehalten ward, schnitten sie zuerst die Zunge aus dem Halse und marterten ihn darauf hin in mannigfaltiger Weise so lange, bis er seinen Geist aufgab. Den Anderen stachen sie die Augen aus, schnitten ihnen die Glieder vom Leibe, durchbohrten sie bei jedem blanken Knopfe ihres Wamses mit Picken, damit sie doch zwei Knöpfe – neben den metallenen einen Blutknopf – aufzuweisen hätten, töteten sie endlich Alle vollends, zogen sie aus und ließen nur einem einzigen Manne das nackte Leben, der sie hierauf nach dem nahen Mariental führen mußte.
  Während diese Bluthochzeit auf der Steppe gefeiert wurde, war in Mariental alles Volk, groß und klein, – das seit dem letzten Raubzuge noch im Dörfchen verblieben war, zur Messe im Gotteshause versammelt. Wachen waren ringsum auf den Höhen der Karamanufers aufgestellt, die scharf ausspähen und von Allem, was sie sahen und hörten, den Schulzenamte Bericht tun mußten. Wir erinnern daran, gleich im Anfange unserer Erzählung eines solchen Wachtmannes Erwähnung getan zu haben. Von Zeit zu Zeit ward während der Meßfeier die helltönende Glocke gezogen; man ahnte nicht in dem sonntäglich angetanen Dörfchen, wozu dieser Ton aus der Steppe Veranlassung gegeben.
  Hart am Ufer des Karaman lagen zwei Gehöfte. Das größere derselben schien einem für jene Zeit wohlhabenden Manne anzugehören, denn das Wohnhaus sowohl als die Getreidescheuer – hier "Ambar" genannt – waren aus Holz erbaut, und auch die übrigen, lehmsteinernen Gebäude anstatt mit trockenem Schilf und Röhricht mit neuen Brettern gedeckt. Hier wohnte der Gerichtsmann Hörgfried – Georg Friedrich–Orthmann, einer der angesehensten und begütertsten Wirte des Ortes, ein Mann, der bereits 10 Pferde und vieles Rindvieh, den teuersten Schatz der Steppenbauern, bei der Tabune* hatte.
(*Die Pferde, sowohl als auch das Vieh werden jedes in einem besondern großen Haufen – Tabune – zusammen geweidet.)
Als wollte es bei dem stolzen Nachbarn um Schutz flehen, lehnte sich ein kleines lehmernes Hüttchen, dessen ganzes Dach aus mehreren, quer über von einer Wand zur andern gelegten, mit Röhricht überdeckten und mit einem Haufen Erde überschüttenen Sparrenwerk bestand, an Orthmann’s Wohnung an, mehrere in die Erde gegrabene Höhlen, möglichst kümmerlich überdeckt und verschlossen, diente als Nebengebäude und Bergeort für Vieh und Getreide. In und um beide Gehöfte war’s still und einsam, die Bewohnerschaft war in die Kirche gegangen. Zwei Kinder nur saßen traulich beisammen im Schatten der knorrigen Eiche, die, in den Bergabhang gewurzelt, die belaubten Zweige weit hinaus gebreitet hatte. Ein Knabe war’s von etwa 13 bis 14 Jahren, äußerst ärmlich gekleidet, aber doch rein und sonntäglich, armer aber guter Leute Kind, es war des Peterhannes, des armen Tabunenhirten, des Bewohners der elenden Lehmhütte, Sohn, der Johann Michel oder kürzer Hannmichel genannt, ein flinker Bursche, der von seinem Vater dem Gerichtsmanne verdungen war und demselben als "Knechtche" in der Wirtschaft rührig zur Hand ging. Er hatte sich auf den Rasen hingekauert und arbeitete eifrig mit den schon recht kräftigen Fäusten in der Luft herum, als wolle er einen unsichtbaren Geist oder sonst was dergleichen bekämpfen, dabei viel und heftig mit seiner Gespielin, einem Mädchen von etwa 12 Jahren, redend. Das Mädchen war viel besser gekleidet als der Knabe, schaute aber denselben mit den kindlichen blauen Augen, so treuherzig an, schien ihn so herzlich bittend um etwas anzugehen, daß man schier hätte meinen sollen, er sei der Herr und habe über sie zu befehlen. Schauen wir nun dem bildhübschen Mägdlein etwas näher in’s Angesicht und erfahren, wer es eigentlich ist. Es ist "dem Gerichtsmann sein Mägdche", die kleine Anna Maria Ortmann, kurzweg Ammi genannt, das hübscheste, aber auch zugleich verzogenste Kind im ganzen Dorfe. Die Kinder sprachen mit einander über die zu erwartenden schrecklichen Kirgisen. "Ja, Ammi, " eiferte der Knabe, "wenn ich schon groß wär und die Kirgisen täten kommen, da tät ich mich net hinter’n Ofen verkrichen, ich ging‘ auf sie los, und ‚ne Axt tät ich nehmen und so – so – (hierbei schlug er mit seinen Fäusten gewaltig auf den neben ihnen sich erhebenden Eichenstamm) tät ich sie behandle!" "Aber, lieber Hannmichel," besänftigte das Mädchen, "wenn sie dich nun todtschlagen? Was dann? – "Na was wär’s dann, dann wär‘ ich todt, aber wie ‚nen Hund sollten sie micht net kriegen, den Obersten von ihnen allen tät ich erst vom Gaul unterschlage, und so hätt‘ ich doch was Recht’s getan, und dann könnten sie mich todt machen, wenn sie wollten!" "Aber lieber Hannmichel," bat das Kind, "wenn du nun todt wärst, was würde dann aus mir werden? Wer würde dann meine Gockeln füttern und mein Gäulche, das kleine, und wer würde mir dann da unten im Busch Schwarzkirschen suchen, und mich die schöne Sprüch‘ aus dem Bilderbuch lehren – geh nit zu den Krigisern, lieber Hannmichel, bleib bei mir, – und wann sie kommen, weißt du, dann laufen wir dort durch den Busch in die dunkle Höhl‘, die da unten an Wasser ist, da finden sie uns net, und den Tate und die Mame (Vater und Mutter) auch net, und wenn sie dann weg sind, dann kommen wir raus, und wenn sie uns Alles zu essen und trinken weggenommen haben, dann gehen wir in die Schlehenbusch – weißt da‘, dort hinten am Kreuz – und holen uns was – aber geh nicht fort von mir, lieber Hannmichel, sie machen dich wirklich todt." Sie hatte ihn bei diesen Worten an die Hand gefaßt und blickte ihn dabei so angstvoll an, als wären die entsetzlichen Kirgisen schon da, und hätten ihren lieben Gespielen bereits in ihrer Macht; die Augen waren voll Tränen und sie zitterte so heftig am ganzem Leibe, daß der jugendliche Mut des kräftigen Burschen wie mit einem Mal gebrochen ward, – er ließ seine Hände traurig sinken und klagte nur halbwehmütig:"Was werden aber die andern Burschen von mir sagen, wenn sie hören, ich sei vor dem wilden Volk wie ein Hund in’s Ofenloch gekrochen, sie werden mich auslachen und mit den Fingern auf mich weisen, wenn ich über die Gass‘ geh!" "Das dürfen sie net, und will’s auch gleich dem Tate sagen – eiferte die kleine Ammi – und dann will ich doch sehen, wer über unsern Hannmichel lachen darf, wenn der Ortmann’s Görgfried es net leiden kann, – weißt du denn nicht, daß unser Tate Gerichtsmann ist und daß er die Leut in den Schweinestall sperre kann? – Sie sollen dir nix tun dürfen, die – aber Jesus Maria, was ist denn das?" stieß die Kleine im höchsten Grade erschrocken hervor, "wo jagen denn die Leut hin?" In demselben Augenblicke sprengten nämlich drei bis vier von den zur Wache aufgestellten jungen Leuten an den Kindern vorbei, die Gasse hinab mit dem Entsetzensruf: Die Kergiser kommen! Die Kergiser kommen! In einem Nu waren die Straßen voll Menschen; stromweis stürzten sie aus der Kirche und liefen voll entsetzlicher Angst auf ihre Häuser zu, als wollten sie denselben gegen die räuberische Hand der unmenschlichen Wilden beschützen. Da war keine Zucht und keine Ordnung, und nur mit Mühe gelang es dem Schulzen und dem Gerichtsmann Ortmann, wenigstens etliche junge Burschen zum Abbrechen der Karamanbrücke zu bewegen, damit die Kolonie auf diese Weise doch in Etwas vor dem Andrange des Raubgesindels gesichert sei. – Die Männer des Dorfes hatten sich inzwischen von der ersten Bestürzung erholt, ein Jeder irgend eine Waffe – Heugabeln, Sensen; Aexte u.s.w. ergriffen, sie sammelten sich am Karamanufer und stellten sich zur Verteidigung ihrer Angehörigen und ihres Eigentums herzhaft daselbst auf, die wilden Feinde erwartend.
  Diese waren auch bald genug da. Die Späher des Dörfchens hatten nicht zeitig genug die Anzeige gemacht, denn sie waren der Meinung, der große über die Steppe sich herbewegende Menschenhaufe sei Niemand anders, als die Schaar des Pastors Wernborner, die ihre Gefangenen befreit habe und sich nun auf dem Rückwege befinde. Erst, als die Wilden schon ganz in der Nähe waren, sahen die Kundschafter ihren Irrtum ein, brachten aber nun auch die Schreckenskunde mit Windeseile in’s Dorf, so daß doch wenigstens einige Vorsichtsmaßregeln getroffen werden konnten. Dieselbe erwiesen sich aber sehr bald als nutzlos, denn die Kirgisen fragten nach keiner Brücke – "de Leut hon allzumal de Brück umer sich", sagen unsere Kolonisten, "des sein ihre flinke Gäul" – setzten reitend auf ihren schwimmenden Pferden über das Wasser und jagten den Bergabhang mit fürchterlichem Geschrei hinan. Den Marientaler Männern erging es nun gerade, wie ihren gefallenen Brüdern vor etlichen Tagen; schon der ihnen fremde Anblick, daß die Kirgisenpferde sämtlich das Wasser auch ohne Brücke passiren konnten, machte sie stutzig, und als nun gar das höllische durch Mark und Bein dringende Geheul aus 1000 rauhen Kehlen von Fluße her durch den Wald heraufschallte, da ergriff Alle panisches Entsetzen. In wilder Flucht liefen sie auseinander und verkrochen sich in Kellern und Erdhöhlen, im Walde und in den Schluchten des Flußufers, wo grade ein Jeder in der Angst einen Schlupfwinkel fand. Inzwischen waren die Kirgisen auch schon bis in das Dorf gedrungen, mit heillosem Gebrüll durchstreiften sie die Gassen, schlugen Fenster und Türen ein, zerbrachen Kisten und Kasten, raubten und plünderten, was ihnen gefiel, vernichteten und zerbrachen das Uebrige. Auch das Gotteshaus war vor ihnen nicht sicher, die Kirchenornamente, die geistlichen Ornate, die heiligen Gefäße schleiften sie fort, Altarsteine, Bilder u.s.w. zertrümmerten sie in tausend Stücke. Wenn sie zufällig einen Menschen erhaschten, der ward nach alter Sitte mit Haarstricken am Halse, an Händen und Füßen gefesselt, alle Gefangenen aber auf einen Haufen zusammengetrieben und einer unbarmherzigen Wache übergetan, wobei die Knute und Mißhandlungen aller Art wiederrum die gewohnte Rolle spielten. Die Pferde und die Rindviehtabunen des Dorfes waren inzwischen von etlichen Kirgisen auch auf der Steppe aufgestöbert und herbeigetrieben worden; schon gab der Anführer ein rauh aussehender riesiger Mensch, mit blutiger Picke in der Hand und einem unmenschlichen Ausdruck in dem satanischen Gesicht, von seinem großen, hohen Schimmel herab das Zeichen zum Aufbruch, denn auch die Nachbar–Kolonien sollten noch heimgesucht werden: da schleppten einige von seinen Leuten einen entsetzlich zugerichteten, mit Wunden und blutigen Striemen überdeckten Burschen herbei, erzählten dem Führer, daß dieser Bursch, bloß mit einem Knüttel bewaffnet, aus einem Hause, an das sie sorglos herangeritten, herausgesprungen sei und einen ihrer besten Männer, der das schönste Pferd und Sattelzeug gehabt, zu Boden geschlagen habe; sie hätten ihn darauf fangen wollen, er habe sich aber wie ein wildes Pferd gewehrt und noch zwei von ihnen darniedergestreckt. Nur mit Mühe seien sie seiner habhaft geworden, hätten ihn dann aber auch mit der Knute so lange traktirt, bis er zur Ruhe gekommen sei; jetzt brächtensie ihn her, um zu erfahren, ob dieser tollkühne Knabe zur Stelle getödtet werden solle, oder ob der Häuptling ihn, der mehr Entschlossenheit und Muth gezeigt habe, als alle Andern zusammen, gefangen mit in die Horde zurückführen lassen wolle? Der Unmensch vom Schimmel herab erteilte dem Burschen noch einen fürchterlichen Kopfhieb mit dem Schaft seiner Picke, daß der Arme ohnmächtig zusammensank, und befahl darauf, denselben unter besonderer Bewachung in die Horde zu führen, er dürfte dort einen guten Kamel– oder Schafhirten abgeben. Wir haben in dem Burschen unsern Hannmichel wieder erkannt.
  Noch sieben andere Kolonien um Mariental herum wurden an demselben verhängnißvollen Tage von den Wilden ebenso heimgesucht; der 15. August 1776 steht in den Annalen der Kolonien des Marientaler Kreises blutrot verzeichnet zum Gedächtniß für Kindeskind. – Die Beute an Menschen, Vieh und allerlei Habseligkeiten war endlich so groß, daß sie kaum mehr fortgeschaft werden konnte, und der Häuptling der Kirgisenschaar den Rückzug an den Ural anbefehlen mußte: Frauen und alte Männer wurden auf die Packpferde gesetzt und unter dem Leib derselben an den Füßen mit Haarstricken zusammengebunden; die jungen Männer und Mädchen aber mußten, an den Sattelknopf der Kirgisen gebunden, nebenan laufen, und wer von ihnen zusammensank, ward auf der Stelle getödtet und auf die Steppe geworfen. Weinen und Klagen, – gegenseitiges Sprechen war streng untersagt, wo sich dennoch solches hören ließ, da schwirrte die entsetzliche Knute über Kopf und Rücken des Opfers; die wimmernden Säuglinge wurden von der Mutterbrust gerissen, mit der Picke durchbohrt und dem Steppengeier zum Fraß neben den Weg hingeschleudert, die darüber im Übermaß der Schmerzen aufjammernde Mutter mit unbarmherzigen Schlägen zur Ruhe verwiesen.
  Alte, kränkliche Leute, Knaben und kleine Mädchen, die nach und nach den Unmenschen zur Last fielen, wurden auf der Stelle ohne alles Weitere niedergestochen, denn aus Furcht vor nachsetzendem Militär ging der Marsch schnell vor sich, und alles Behindernden wußte man sich leicht zu entledigen. – Er wird viel Wesens gemacht von den Leiden der englischen Ansiedler in Nordamerika, die sie seitens der Indianer zu dulden hatten; die Karamansteppe hat aber auch Dinge der Art auf sich vorgehen sehen; – es sind zwar keine gewandten Federn bereit gewesen, das auszumalen und zu schildern, desto lebhafter aber lebt die Erinnerung daran in den Herzen unserer lieben Deutschen an der Wolga, deren Väter dieses Fürchterliche haben durchmachen müssen.
  Wir begleiten unsere armen Gefangenen wieder bis an die Metschetnaja. Am "Kergießer–Platz" ward diesmal nicht Halt gemacht, sondern jenseits des Flußes wurde das Nachtlager aufgeschlagen, die Gefangenen streng bewacht – auch sonst Wachtposten ausgestellt und für den Fall der Not frische Pferde bereit gehalten, um nötigenfalls gleich in der Nacht aufbrechen und weiterziehen zu können. Wenn die Kinder der damals Gefangenen von jener entsetzlicher Nacht sprechen, so zittert ihre Stimme und die Augen füllen sich mit Tränen; die Nacht hatte ihren Schleier gebreitet über tierische Grausamkeit und tierisches Laster, da hat eisige Todeshand so manches Menschenleben und so manche Menschenunschuld in’s Grab geweht!
  Endlich – endlich ward es Morgen! Der Zug brach auf, und hinein ging’s in die himmelweite uralische Steppe. Der Himmel war hell, die Luft lau und mild; fröhlichen Sinnes ritten die Kirgisen ihrer wilden Heimat zu, des gemachten Raubes sicher, – sie brummten, pfiffen und sangen ihre unharmonischen Weisen laut durcheinander; die Gefangenen aber schleppten sich seufzend dahin, dem Tode oder jahrelangem Elend entgegen, da hat manch brünstiges Gebet zu dem Herrn der Heerschaaren nicht gefehlt.
  Inzwischen sah es in dem verstörten Mariental elend und traurig genug aus. Als die Unholde sich vollends entfernt hatten, da lugte hier und dort ein scheues Angesicht aus dem und aus jenem Winkel heraus, die armen Leute wurden nach und nach beherzter, sammelten sich und weinten selbander bitterlich auf dem Grabe ihrer Habe. Da war auch nicht Einer, der nicht was zu beklagen und zu bejammern gehabt hätten, dem Einen lag sein Haus in Trümmern, dem Anderen war seine ganze Habe, sein Vieh und seine Pferde genommen, dem dritten fehlte der Sohn oder die Tochter, jenem der Vater oder die Mutter, – dem Gatten die Gattin, den Eltern das Kind. Und rettungslos war Alles verloren, denn wer etwas von den Seinen in den Händen der Wilden wußte, der sah es sicherlich nicht wieder! Da gab’s Jammern und Klagen, da gab’s stumme Verzweiflung, die sich hinsetzte auf die Schwelle des zerstörten Hauses und nichts als den Tod über sich erabflehte. – Am leidlichsten war es noch im Hause des Gerichtsmannes Ortmann bestellt. Er selbst, sein Weib und Kind waren in der ersten Verwirrung in die von Ammi schon oben bezeichnete Höhle geflüchtet, waren in jenem Versteck ungefährdet geblieben und er stand jetzt wolbehalten mit den seinen, Gott dem Herrn dankend, an der Schwelle seines Hauses. Sein Haus war eines der wenigen, die gar nicht heimgesucht worden waren. Die Abteilung der Kirgisenschaar, die in diesem Hause ihre Beute sich holen wollte, hatte mit dem aus demselben herausstürzenden tollkühnen Burschen, dem Hannmichel, so viel zu tun gehabt, daß sie inzwischen von dort ab in eine andere Gegend des Dorfes verschlagen war, und hier ihre Raubgierde befriedigte. Mit Ausnahme einigerzerbrochenen Fensterscheiben stand Ortmann’s Haus ganz so da, wie er es verlassen hatte, aber das Beste fehlte doch, das war der treue Bursche, der Hannmichel. Ammi kannte keine Grenzen in ihren Jammer, sie weinte und klagte, daß es auch ein steinernes Herz hätte rühren müßen. Sie wollte den Hannmichel sogleich zur Stelle haben, der Tate solle ihn nur schaffen, er sei ja doch Gerichtsmann; es half nichts, daß ein Nachbar, der aus seinen Schlupfwinkel den ganzen Hergang mit dem Hannmichel mit angesehen hatte, Aufschluß darüber gab, was mit demselben geschehen sei, – die beherzte Tat des Burschen, seine Aufopferung für ihr und ihres Vaters Haus stellte dem kleinen Mädchen den Verlust des lieben Gespielen nur in noch lebendigeren Farben vor die Augen, mit drohenden Geberden forderte sie ihn von des Vaters Hand, die sie für allmächtig hielt, und als sie sah, daß dieses doch nichts fruchtete, und sie den Hannmichel auf alle Zeiten missen solle, da weinte und schluchzte sie so bitterlich und so lange, bis endlich in später Nacht ein tiefer Schlaf über sie kam und ihre Tränen stillte.
  Am andern Tage verbreitet sich ein freundliches Gerücht durch das verödete Dörfchen. Der Major Gogol hatte in der Kreisstadt Wolsk den Befehl erhalten, mit 25 Husaren und 200 wohlbewaffneten russischen Bauern sich in die uralische Steppe zu begeben und der räuberischen Kirgisenschaar, die gegen den Willen ihres Chans auf Plünderungen an den russischen Grenzen ausgebrochen waren, den Weg abzuschneiden und ihnen ihre Beute abzunehmen. Seine Absendung kam noch zu rechten Zeit, denn gleich nach dem Auszuge der Raubschaar aus der Horde hatte der Chan die Orenburgsche Kriegsbehörde davon in Kenntniß gesetzt, diese aber den Wojewoden von Saratow, unter dessen Befehl der Major stand. Es war vorläufig immer nur von 70 – 80 Kirgisen die Rede gewesen, daher auch die Mannschaft des Majors so gering. Sogleich unternahm er den Zug in die Steppe, indem er 2 Feldgeschütze zur größeren Sicherheit mit sich führte, und fort ging’s nach den Quellen des Usenflußes zu. Die Nacht, während welcher die rückkehrenden Kirgisen an der Metschetnaja lagerten, brachte auch der Major mit den Seinen an demselben Flüßchen zu, obgleich ohne etwas von den Kirgisen zu wissen, in deren Nähe er war. Nach Mariental war die Kunde von des Majors Streifzuge und deren Zweck bereitss gedrungen; zagende Hoffnung, daß es ihm vielleicht gelingen könnte, den Wilden ihren Raub abzujagen, lebte auf unter den vereinsamten und verarmten Zurückgebliebenen an den Ufern des Karaman. Tagtäglich liefen sie auf die benachbarten Höhen, ob sie nicht vielleicht die ersehnte Annäherung der Ihrigen erspähen könnten, die kleine Ammi war keine der letzten dabei, sie sah sich fast blind, weit in die Steppe hinein, so weit das Auge reichte, und immer, immer noch wollte sich nichts sehen laßen.
  Der Major war ebenso zeitig wie die Kirgisen von seinem Lagerplatz an der Metschetnaja aufgebrochen. Nachdem er mit seinen Leuten einige Zeit über die Steppe dahingeritten, bemerkte er am Horizont eine gewaltige Staubwolke, die immer größer und größer wurde und aus der immer mehr Gestalten hervortauchten, je näher er an sie heran kam. Er betrachtete die Erscheinungen sorgfältig mit dem Fernrohr und erkannte bald, wen er vor sich habe. Die große Zahl der Wilden machte ihn aber stutzig, da er nur auf 70 – 80 gerechnet hatte, er entschloß sich aber dennoch, ihnen kühn die Spitze zu bieten und den gemachten Raub abzunehmen. Vorsicht tat aber hier vor allen Dingen Not. Er ließ die beiden Feldstücke voranstellen, mehrere Packwagen ihnen zur Seite; ließ darauf kleine Schaar sich nach rechts und links von dieser Wagenburg ausdehnen, und einzelne seiner Leute hohe mit Tüchern und Fahnen umbundene Stangen in die Hände nehmen, damit der kleine Zug hierdurch ein bedeutenderes Ansehen gewinne. – Die Kirgisen wußten erst nicht, was sie aus dem auf sie loskommenden Menschenhaufen machen sollten, einzelne Reiter wurden von ihnen entsandt, die sich immer näher und näher heranwagten, um zu recognoscieren, und da keine feindselige Anstalten gegen sie getroffen wurden, ritten sie bis fast an die Feldstücke. Inzwischen hatten ihre Brüder alles zur Flucht bereit gemacht, die Gefangenen waren fester gefesselt und auf die Pferde gebunden worden, als sie aber durch den Zuruf ihrer Vorposten erfuhren, es scheinen ihnen uralische Kosaken zu sein, und der Ruf: Kasak, Kasak! durch ihre Reihen ertönte, wurden sie ganz sorglos, indem sie entweder von diesen ihnen befreundeten Nachbaren nichts befürchten zu müssen meinten, oder der Ansicht waren, mit diesem Militär – das ihnen in so vieler Beziehung gleicht – würden sie schon leicht fertig werden. Die von dem Major befehligten russischen Bauern waren gar nicht mehr zu zügeln, sie wollten die Geschütze sogleich auf die Kirgisen losfeuern, und nur mit Mühe konnte ihr Befehlshaber sie davon zurückhalten, indem er befürchtete, hierbei auch etliche gefangene Deutsche zu treffen. Er wollte es erst im Handgemenge versuchen, seiner Gegner Herr zu werden, und ermunterte seine Leute zu Gottvertrauen und rechter Tapferkeit. Eine größere Abteilung Kirgisen war soeben herausforderrnd bis hart vor die Wagen herangekommen, da hielt der Major es für die rechte Zeit, hinter denselben hervorzubrechen und den Kampf zu beginnen. Es entbrannte ein scharfes Gefecht, das in wenig Minuten zu Gunsten der Militärabteilung entschieden war. Der Anführer der Kirgisen drang mit zwei Begleitern auf den Major selbst ein und schwang seine Picke, nun ihn mit derselben zu durchbohren. Jener hatte aber die Gefahr bemerkt, mit seinen zwei Sattelpistolen streckte er die zwei zu Boden, den Lanzenstoß des Kirgisenhäuptlings parirte er aber mit dem Reitersäbel und spaltete ihm selbst darauf den Kopf. – Seine Husaren hieben ihm zur Seite gleichermaßen wacker in die Feinde und auf die russischen Bauern feierten nicht; – der Ruf: usar! usar! den einige fliehende Kirgisen ertönen ließen, wirkte magisch, denn die Furcht der Wilden vor regelrechtem Militär war zu der Zeit groß: in einem Augenblick war der ganze Trupp in wilder Flucht über die weite Steppe begriffen, und so gut kam ihnen die Schnelligkeit ihrer Pferde zu statten, daß nur 3 der Ihrigen den siegreichen Russen als Gefangene in die Hände fielen.
  Wer konnte es aber unternehmen, die selige Freude der deutschen Gefangenen zu schildern, als sie sich nun befreit sahen! Ihre Bande wurden durchschnitten und so wie einer frei war, eilte er, auch dem anderen den gleichen Liebesdienst zu erweisen. Diejenigen, die es durchlebt hatten, konnten es ihren Kindern zu späteren Zeiten nie ohne Tränen erzählen, wie ihnen damals zu Mute gewesen sei, als sie selbst schon frei waren, ihre am Sattelknopfe hängenden armen Brüder ihnen aber bittend zuriefen: "Komm Bruder, löse mir die Bande!" Das erste Gefühl der erlösten Gefangenen war tiefgerührter Dank gegen Gott den Allmächtigen, den sie kniend mit Tränen darbrachten, darauf aber umringten sie den Major Gogol, ihm für seine heldenmütigen Edeltat zu danken. Sie haben ihre Gefühle gewiß in keine hochklingenden Phrasen gekleidet, – es muß aber doch was Rechtes gewesen sein, das sie gesprochen haben, dem der rauhe, abgehärtete Kriegsmann weinte selbst wie ein Kind und auch manchem alten Husaren rannen die Tränen in den Bart, als er das Alles mit ansah und anhörte.
  Jetzt hatte alle Not ein Ende. Sämmtliches Vieh und alle geraubten Pferde waren noch zur Stelle, dazu auch die Packpferde der Kirgisen, die ermatteten gemißhandelten Deutschen wurden ein jeder auf besonderes Pferd gesetzt, die dem Raubgesindel abgenommene Beute aufgeladen und fröhlich ging’s dem annoch trauernden Mariental zu, ein freudigerer Einzug, als der Auszug gewesen. Von den drei gefangenen Kirgisen ward der eine, da er auf die an ihn gestellten Fragen des Majors zu antworten sich entschieden weigerte, auf Anordnung, desselben hingerichtet, die beiden andern aber der Obrigkeit in Saratow zugeschickt.
  Eine große Menge Menschen war auf dem Karamanberge bei Mariental versammelt. Man hatte einen langen Zug von Reitern und Wagen von der Metschetnaja her sich dem Dorfe nähern sehen und auch bald erfahren, wer es eigentlich ist. – Da war auch Niemand mehr zu halten. Zu Fuß und zu Pferde, wie ein Jeder es grade vermochte, lief man den schon verloren Geglaubten entgegen, da gab’s manch herzlichen Händedruck, da gab’s manche fröhliche Umarmung, da gab’s Tränen, der Freude, die nur der kennt und gezählt hat, der die Geschicke der Menschen in seiner Hand hat und sie lenkt nach seinem Wohlgefallen. Aber auch manche Schmerzenträne – bittere, herbe Tränen flossen hier aufs neue, dem Viele, die aus Mariental fortgeführt worden waren, kehrten nicht mehr zurück, sie schlummerten den ewigen Schlaf auf weiter Steppe; mancher Gatte erhielt zwar sein treues Eheweib wieder, sein Kind aber war mit durchbohrtem Herzen den Steppengeiern – zum Fraß hingeschleudert worden und auf freiem Felde bleichten dessen Gebeine! Wer ist aber jenes kleine hübsche Mädchen, das dort am Wege sitzt und dort so herzzerreißende bittere Tränen weint? Der Major bemerkt sie, tritt freundlich zu ihr heran und fragt nach dem Grunde ihrer Trauer. "Herr Soldat," spricht sie zu ihm, "könnt ihr mir nicht sagen, wo er geblieben ist? Ist er auch todt, oder haben ihn die wilden Menschen mit sich fortgeschleppt?" Ratlos sieht sich der Major um und läßt nachfragen, ob der Hannmichel unter den Gefangenen sich befinde, und als er verneinende Antwort bekommt und Niemand den Burschen seit dem letzten Nachtlager an der Metschetnaja gesehen haben will, da sinkt die kleine Ammi wieder zusammen und will in Tränen zerfließen; des Ortmann’s Görgfried nimmt sein Kind zu sich in seinen Wagen, er spricht ihm allerlei schöne Trostworte zu und es will doch Alles nicht fruchten. Das waren traurige Tage und Nächte für die kleine Ammi, wie viel derselben sie aber durchweint hat – wer hat das gezählt?
  Schreckliche Stürme toben mitunter arg in der Natur sowohl als im Menschenherzen, wenn aber etliche Zeit vorübergegangen ist, erkennen wir äußerlich kaum noch ihre Spuren; das gewöhnliche Alltagsleben läßt uns das Außergewöhnliche, und mag es auch noch so fruchtbar gewesen sein, bald vergessen. Durch die schützende Fürsorge der russischen Regierung ward für die nächste und für alle Zeit derlei blutigen Raubzügen vorgebeugt, die neuangelegte uralische Linie stellte die Wiesenseite sicher vor den Einfällen der Nomaden; die Männer von Mariental erhielten von dem Major jeder seine Pferde, sein Vieh und die geraubte Habe wieder; mit dem Verlust dessen, was sich nicht ersetzen ließ, söhnte man sich aus. Fleiß und gute Ordnung erhoben sowohl diese wie auch die Nachbarkolonien bald zu gedeihlichem Wohlstand, die entsetzliche Kirgisenperiode, war bald, wie vieles Andere auch, im Meer der Vergessenheit begraben, und nur Diejenigen, die damals selbst die Opfer gewesen waren, konnten das Bild jener Zeit bis an ihre Todesstunde vor ihren Augen nicht verschwinden sehen.

II. Zwölf Jahre sind eine lange Zeit im Menschenleben. Da kann Manches anders werden, Manches aufgetaucht sein, das früher nicht da war. Manchem kann aber auch die lange Zeit kurz geworden sein. Wer keine Sorgen hat und keine Not, an dessen Tür Trübsal und Schmerzen vorübergehen, ohne auch nur leise auszuklopfen, der wundert sich, daß abermals zwölf Jahre vergangen sind, und er hat es kaum gemerkt. Wo aber ein verborgener Wurm am Herzen nagt, wo der Kummer sich Abends mit uns zu Bette legt und Morgens aufsteht: da haben zwölf Jahre eine lange, lange Geschichte, die läßt sich sobald nicht auserzählen, als wohl der oder jener meinen dürfte.
  Ueber das Dörflein Mariental am lieblichen Karamanfluße waren auch schon seit der letztberichteten Schreckenszeit zwölf Jahre dahingegangen.Tun wir einen Blick hinein, und sehen zu, was die zwölf Jahr hier gebracht habe. Aus dem armseligen Dörflein ist ein stattliches Dorf geworden, stolze hohe Windmühlen prangen auf den Höhen, ein großer Teil der ärmlichen Lehmhütten ist geschwunden und hat wohnlichen, hübschen Hofgebäuden Platz gemacht. Dazwischen grünt manch üppiger Äpfelgarten in jugendlicher Kraft und schöne, wohlgenährte Pferde, die man hie und da vor einen leichten Leiterwagen gespannt sieht, geben Zeugniß von der Wohlhabenheit ihrer Besitzer. Der dichte Wald, der die Ufer des Flußes früher überkleidete, ist schon sehr gelichtet, – er dürfte in seinem jetzigen Zustande wohl schwerlich dazu geeignet sein, einem spähenden Kirgisenauge gegenüber als Schlupfwinkel zu dienen; die Eiche vor des Gerichtsmannes Ortmann Hause, steht aber noch schöner da, dann je zuvor, sie ist dichter, stämmiger und höher geworden. Aber auch des Görgfried Wirtschaft selbst bietet ein ganz anderes Bild, – ein neues stolzes Wohnhaus hat neben dem alten Platz genommen, dieses aber hat sich zum Nebengebäude hergeben müssen, die Lehmwände sind sämmtlich verschwunden, hier guckt, um mit dem Kolonisten zu sprechen, der Geldsack zu allen Fenstern naus. – Und was ist aus des alten Pferdehirten ärmlichem Hause geworden? Der Bewohner desselben ist schon längst hinübergegangen, der Gram um seinen verloren gegangenen Sohn hat viel beigetragen zur Verkürzung seiner Tage, Verwandte hat er sonst keine gehabt, – und so ––hat denn des Nachbars Ammi nebst seinem Segen die geringe Wirtschaft geerbt. Wie sie dieselbe übernommen hat, hat sie sie auch stehen lassen und es hat nichts daran geändert werden dürfen, trotzdem, daß die elende Baracke daneben dem alten Ortmann schon lange ein Dorn im Auge ist und er auf den Platz derselben gern ein anderes Gebäude hingestellt hätte. Es ist kindliche Pietät gegen den entschlafenen Tabunenhirten, die dem alten Lehmhaus seinen Platz sichert. Zudem war ja auch der Hannmichel in demselben geboren.
  Ortmann’s Ammi ist zur stattlichen Maid herangewachsen, schon über die ersten Jugendjahre heraus. – Seit mehr denn fünf Jahren gilt sie für das schönste Mädchen weit und breit und da es wohl bekannt war, wie viel der alte Ortmann seinem "Mädel" mitgeben könne und auch wolle, hat "Schön Ammi von Mariental" über Mangel an Freiern sich nicht zu beklagen gehabt. Nicht nur aus Mariental, auch aus den Nachbar–Kolonien, aus Schälz, aus Schäfer, aus Herzog, Graf und Louis, je noch weiter her, aus dem volkreichen Katarinenstadt sind die besten und bravsten ledigen jungen Burschen nach Mariental herübergekommen, und die reputirlichsten Freiersmänner sind dem alten Ortmann in’s Haus gegangen, um daselbst sich die Erlaubniß zum Suchen nach "der verloren gegangenen roten Kuh" zu holen; der alte Ortmann hat mitunter beifällig dazu gelächelt und sich mit allerlei herrlichen Plänen und Hoffnungen herumgetragen: Schön Ammi und durch ihr beharrliches Nein alle seine Luftschlösser auf den Kopf gestellt. – Sie konnte sich nun einmal der steten Gedanken an den Gespielen ihrer Jugendtage nicht erwehren, der Hannmichel schwebte ihr Tag und Nacht vor Augen, wie er so tapfer und männlich in ihrem Interesse sich gegen die unmenschlichen Wilden gewehrt; sein Bild, wie er blutend und zerschlagen von ihnen fortgeschleppt, vielleicht gar getödtet ward, schwand nicht aus ihrer Seele, sie konnte nun einmal keinen anderen Burschen lieb gewinnen, und mochte es auch der bravste sein. – Hatte sie wieder einmal so recht herzinniglich des Jugendfreundes gedacht, und hinwiederum auch des Schmerzes und Leides, das sie ihrem geliebten Vater durch ihre stete Weigerung zum Eingehen einer vorteilhaften Heirat bereiten mußte, so ging sie heimlich in des verstorbenen Peterhannes Lehmhütte, setzte sich daselbst auf die alte Holzbank und weinte bittere Tränen. Ein Mädchenherz bleibt immer ein Mädchenherz, mag es nun in der Brust einer zarten Salondame oder eines einfachen Bauermädels schlagen, es fühlt unter dem schlichten Mieder ebenso innig und tief wie unter dem schillernden Seidengewand; die Augen, die jeden Wind und Sonnenschein ausgesetzt sind, können ebenso herzlich und bitterlich weinen, wie die hinter blumigem Sonnenschein vor Wind und Wetter geschützten. – Hier war es nun, wo Vater Ortmann sein Kind oftmals überraschte, wo er einen tiefen Einblick gewann in ihr Leid und ihr Weh und ihr immer wieder sein väterliches Versprechen erneuerte, sie nie und nimmer zu einer Heirat zu zwingen.
  So waren nun mehrere Jahre dahingegangen. Schön Ammi ward älter und älter und dachte doch nicht daran, irgend einen neu aufgetauchten Freiersmann mit günstigeren Blicken anzusehen, als den vor ihm dagewesenen. – So kann es denn auch bald, daß sie – zumal sie des sogenannte "Spielengehen", d.h. Besuche abstatten, sorgfältig mied und nur mit sehr wenigen Frauen und Mädchen ihres Alters Umgang pflegte – in den Ruf einer stolzen, hochfahrenden Dirne geriet, und der ihrem ganzen Wesen anhaftende tiefe Ernst als hochmütige Gleichgültigkeit gegen Ihresgleichen angesehen wurde. Das focht sie aber wenig an, sie hörte kaum etwas davon, ihr Leben verlief in altem ruhigen Geleise. "Und kommt der Hannmichel nit wieder", hatte sie zu ihrem Vater gesagt, "und ich kann sein Weib nit werden, so bleib ich ledig bis an meinen Tod und will keinen Andern haben!" Da gab es nun wohl wenig Hoffnung, denn von Hannmichel hatte inzwischen kein Mensch etwas gehört, er galt für todt oder verschollen, der alte Ortmann aber bemitleidete aus tiefsten Herzengrund die unglückliche und hoffnunglose Leidenschaft seines geliebten Kindes.
  Der 15. August des Jahres 1788 war inzwischen angebrochen. Das war für Schön Ammi von jeher ein rechter Feiertag gewesen; da hatte sie, wenn die Gemeinde in öffentlichem Gottesdienste noch jetzt ihren Dank abstattete für die wunderbare Errettung der Ihrigen, die der Herr ihnen vor zwölf Jahren geschenkt, da hatte sie immer so herzlich für den Hannmichel zum lieben Gott gebetet, daß er ihn, so er noch leben sollte, doch möchte heimgeleiten in sein väterlich Dorf und Haus.
  Auch heut‘ hat sie wieder im Gotteshause so recht innig gebetet und geweint und war dann in Gesellschaft ihres Vaters nach Hause zurückgekehrt. Noch war sie immer "Schön Ammi von Mariental," noch prangte sie in voller Jugendblüte, die Anmut gewann nur durch die Traurigkeit. – Da trat ein Gast auf im Hause des alten Ortmann. Es war der Sohn eines wohlhabenden Marientaler Bauern, der mit "Schön Ammi" im gleichen Alter stand. Er war auch einer der Gefangenen gewesen an jenem entsetzlichen Tage, war damals auch befreit worden und seine Eltern wiedergebracht. Der Heinrich Peter hatte auch den Hannmichel in jener Nacht an der Metschetnaja noch gesprochen und von ihm gehört, daß es ihn mehr, als seine Wunden schmerzen, von der kleinen Ammi getrennt zu sein, – das hatte der Heinrich Peter der Ammi wiedererzählt und sie war ihm deßhalb immer recht gut gewesen. Er wußte auch, wie lieb sie den Hannmichel habe, darum hatte er auch immer noch gewartet und gewartet, ob derselbe nicht endlich einmal wiederkäme, – es schien aber ein vergebliches Warten zu sein, und da trat er denn am 15. August 1788 in Ortmann’s Haus und sprach zu ihm und zu seinem Mädchen, daß er sie sehr lieb habe und zur Frau haben möchte‘, wenn anders sie ihn haben wollt‘, – und der Hannmichel käm doch nicht wieder und er sei sein guter Freund gewesen. Dem alten Ortmann War’s schon recht, aber kopfschüttelnd sah er darauf die Ammi an, vermeinend sie werde mit ihrem Nein sogleich zu Hand sein. Die Ammi aber blickte den Heinrich Peter freundlich an und sprach zu ihm, sie wolle auch nichts dagegen haben, er möchte sich nur bis zum Abend gedulden, da wolle sie ihm ihren ganzen Willen sagen; – es sei ihr so, als habe eine innere Stimme ihr heut‘ im Gotteshause zugeflüstert, der Hannmichel müsse heut‘ kommen, und käm‘ er heut‘ nicht, so käm‘ er nie, so wolle sie denn noch bis zum Abend warten, und käm’er bis dann nicht, so werde sie ihm, dem Heinrich Peter, als einem ehrlichen braven Burschen ihr Ja nicht vorenthalten und dem alten Vater einen guten Sohn in’s Haus bringen. – Der alte Ortmann wußte nicht was ihm geschah, und auch der Freiersmann hatte nichts gegen des Mädchens Wunsch einzuwenden, denn eher, mein‘ er, – könnt der Himmel einstürzen, als daß der Hannmichel wiederkäm‘. – Schön Ammi aber entfernte sich in das Peterhannes Häuschen, um daselbst zu beten und zu weinen.

III. Wenden wir uns von freundlichen Karaman ab und streifen weit, weithin über die unendliche Steppe bis zum rauhen, röhrichten Ufer des Jaik. Auf einem einsamen Hügel steht eine große Zahl von größeren oder kleineren Zelten zwischen denen halbnackte Kinder in großer Menge schreiend und lärmend sich herumtummeln. Vor dem größten, an dessen Stangen mehrere schwer beladene Kamele angebunden sind, lagern auf bunten Decken kleine, stämmige, wild aussehende Männer; das Feuer flammt daneben lustig empor unter einem mächtigen, brodelnden Feldkessel, aus welchem von Zeit zu Zeit große Stücke gekochten Pferdefleisches den daselbst Lagernden vorgelegt werden. Hölzerne, runde Schüsseln, mit säuerlichem Kumüß angefüllt, machen fleißig die Runde, ein jeder Mann muß wacker Bescheid tun, wenn er den Unterchan den Häuptling dieser Hordeabteilung, an seinem Ehrentage nicht tödtlich beleidigen will; feiert derselbe ja doch das Hochzeitsfest seiner liebsten Tochter, die er soeben um den Preis der an das Zelt gebundenen schönen Kamele und der ihnen aufgeladenen Tierfelle einem benachbarten, befreundeten Kirgisenhäuptling zum Weibe überlassen hat; die Gesandten jenes Häuptlings lagern jetzt neben ihm zum fröhlichen Hochzeitsmahle und sollen zur frühen Stunde, sobald der Morgen graut, die junge Herrin ihrem Eheherrn zuführen. Das berauschende Getränk hatte seine Wirkung nicht verfehlt, ein betäubendes Gebrüll und rohes, wildes Gelächter ließ sich weithin hören und schon lag mancher Kirgise am Bode, seiner Sinne nichts mehr mächtig. – Der Mond stand bereits hoch am Himmel. – Mitternacht rückte heran, und gleichsam strafend blickte das sanfte Himmelslicht auf die rohe Scene, von Zeit zu Zeit das strahlende Angesicht mit einem leichten Wölkchen verhüllend. – Auf einem zweiten Hügel am Ufer der röhrichten Jaik saß ein vereinsamter Mann, den Kopf trüb in die Hände gestützt, in düstre Gedanken versunken. Ringsum lagerte teils oder stand auf tauichem Grase eine unübersehbare Menge von Pferden, die Tabune der Kirgisenabteilung, welche jener einsame Mann zu hüten verpflichtet war. Nichts war ringsum zu hören, als der wüste Lärm von den Zelten her und das Rascheln des frischen Nachtwindes im Schilfrohr des tiefen Jaik. Horch, da nahen leichte Schritte durch das wogende Riedgras der Steppe, eine feine, zarte Gestalt, in einen langen, bunten dichten Schleier gehüllt, eilt den hügel hinan, bleibt neben dem düsteren Manne stehen und weckt ihn mit leichtem Schlage auf die Schulter aus seinen wirren Träumen. "Was schaust du so trüb, du Sohn der Fremde," spricht sie zu ihm mit sanfter Freundlichkeit, "sag‘ an, wo weilen deine Gedanken, wo steht es hin, dein Wünschen und dein Sehnen? Warum findet man dich nicht im fröhlichen Kreise der feiernden Männer, was habe ich dir zu Leide getan, daß du meinen Ehrentag so gering achtest und willst dich nicht mitfreuen an meinem Fest? Auch dir ist eine Schüssel gefertigt und ein Teppich bereitet: Du aber fliehest mich und mein Fest, – sag‘ an, du sonderbarer Mann, ist dir deine junge Herrin nicht so lieb, als deine wilden ungebändigten Pferde?" – "Was höhnst du mich so grausam, Gebieterin, "entgegnete der Mann in ihrer Sprache, jedoch mit fremdartigen Accent, "was spottest du meines Leides? Soll ich mich freuen und fröhlich sein und bin doch soweit von der Heimat und von dem Hause des Vaters und habe keine Hoffnung, je wieder dorthin zu gelangen! Du willst dich einem Manne zuführen lässen, den du lieb hast, – da weißt du wohl auch, wie es mir um’s Herz sein muß, wenn ich des Mägdleins in meinem Lande gedenke, daß ich als Knabe schon geliebt habe herzinniglich! Sie war noch klein damals, Herrin, aber schön war sie und gut, und jetzt muß sie sein wie du, – wie, noch viel schöner als du – und wenn ich nun dein gedenke und deines fröhlichen Hochzeitsfestes, dann schweifen meine Gedanken mit, weithin über die Steppe, da könnte vielleicht auch jetzt eine fröhliche Hochzeit am lieblichen Karaman gefeiert werden und sie würde das Weib eines Andern, – das tut mit sehr, sehr wehe, und darum zürne nicht, Gebieterin, daß ich zu dieser Stunde lieber hier bin, als dort beim fröhlichen Feste; der Traurige liebt nicht die Fröhlichen, er paßt nicht zu ihnen und die nicht zu ihm. – Dein aber, dugütige Herrin, dein will ich stets mit herzlicher Liebe und Dankbarkeit gedenken. Dein Gott geleite dich allerwege und vergelte dir Alles was du an mir, dem armen Gefangenen, getan!" Bei diesen Worten ergriff der Mann den Saum ihres Schleiers und küßte ihn mit tiefer Rührung, sie aber ließ sich neben ihn nieder auf des Hügels Sand und sprach: "Du bist eine gute, treue Seele, mein Bruder, und ich möchte dir gern helfen, so viel ich könnte. Warum nimmst du dir nicht den kräftigen Schimmel und den flinken schnellfüßigen Fuchs aus meinen Vaters Tabune und machst dich auf in dein Heimatland, wenn Niemand auf dich achtet?" – "Herrin, wozu rätst du mit," – entgegnete der Mann, "soll ich zum Diebe werden? Meine Eltern haben mich solches nicht gelehrt!" "Du wirst kein Dieb," war ihre Antwort, "was meines Vaters ist, und ich schenke dir diese zwei Pferde, nimm sie und Allah geleite dich in deines Vaters Land!" "Aber wohin soll ich reiten?" fragte ängstlich gespannt der Mann, "ich kam als Knabe hierher und weiß nicht, nach welcher Richtung des Himmels das große Wasser zu finden ist, in dessen Nähe mein Vater sein Haus erbaute, ich werde des Todes sterben auf weiter Steppe!" "Sorge nicht, du Ärmster," tröstete die Maid, "der Gott meiner Väter wird dich führen. Siehst du jenen lichten Stern am abendlichen Himmel? Dem reite nach und halte dich weder rechts noch links, so kommst du an das große Wasser und an die blauen Berge; – ich habe oft zugehorcht, wenn im Zelte meines Vaters gesprochen ward von deinem Land und deines Landes Richtung. – Dem Sterne mußt du folgen, der führt dich nach Haus! Du könntest aber unterwegs ein Opfer des Hungers und des Durstes werden, darum harrte hier noch einige Zeit aus, ich sende dir etliche Stücke Fleisch aus dem Kessel und einen Schlauch Wassers zu, die hebe sorgfältig auf und nimm sie mit dir, du unterwegs nicht verderbest – Nun aber leb‘ wohl! Ich muß in mein Zelt, um mich zur Abreise zu schicken, du jedoch zögere auch nicht, fange die bezeichneten Pferde und nimm den Vorrat, – der Schimmel bringt dich über den Jaik; noch diese Nacht mußt du es tun, denn Niemand wacht jetzt, die Augen der Männer sind umnebelt und voll Schlafes!" Mit diesen Worten erhob sich die Kirgisenbraut, hauchte dem deutschen Fremdling einen Kuß auf die Stirn und war im nächsten Augenblick verschwunden. – Auch der Mann erhob sich, sein Herz pochte ungestüm vor banger Hoffnung und zugleich vor Furcht, – das Unternehmen schien ihm gar zu gefährlich, der Zuspruch des zarten Mägdleins hatte ihn aber doch zu sehr aufgerichtet, gar zu liebliche Bilder ihm vorgezaubert: er ergriff seine Fangleine und war bald im Gewimmel der Pferde verschwunden. Mit großer Mühe gelang es ihm, die beiden herrlichen Tiere einzufangen und vorsichtig kehrte er mit denselben zu dem Hügel zurück. Fleisch und Wasser lagen schon dort bereit, von unsichtbaren Händen besorgt, er wickelte die Vorräte in seinen Teppich und band sie dem schönen Fuchs auf den Sattel, selbst aber bestieg er den Schimmel und trieb ihn vorsichtig in die Fluthen des Jaik. Sachon sah er das andere Ufer vor sich auftauchen, denn in großer Schnelligkeit durchschnitt das herrliche Tier die Wellen, – als etliche halbtrunkene Kirgisen von den Zelten her in lichten Mondscheine den Flüchtling auf der beleuchteten Wasserfläche bemerkten. Mit fürchterlichem Gebrüll rannten sie an den Fluß, um ihm nachzusetzen, – einem von ihnen gelang es auch, eines Pferdes habhaft zu werden und, mit scharfer Lanze bewaffnet, sich auf demselben in das Gewässer zu stürzen. Bereits war er auf der Mitte des Flusses, die scharfe Waffe wiegte er in geübter Faust, um den in geringer Entfernung vor ihm soeben an’s Ufer gelangten Fremdling damit zu treffen; da schwirrte ein beflügelter Pfeil durch die Nachtluft, mit klagendem Schmerzenslaut sank der Wilde zurück in den Sattel, taumelte noch ein paar Mal nach rechts und nach links – und die Wellen nahmen ihr Opfer auf – ohne Reiter kehrte das Pferd an’s Ufer zurück. Es war die zweite Gabe die der Fremdling empfing aus den auch in den Waffen geübten Händen der Kirgisenbraut, erst die Freiheit und dann das Leben.
  Fluchend und schreiend kehrten die übrigen Kirgisen zu ihrem Mahl zurück, sprachen der Trinkschüssel fleißig zu und bald war Alles im tiefsten Schlaf begraben. – Der Entronnene aber setzte in scharfem Trabe seinen Weg fort, immer dem hellen abendlichen Sterne entgegen, und als der Morgen kam, verbrag er sich und seine edlen Tiere in einer tiefen Steppenschlucht. Dort ruhte er ein wenig aus, erquickte sich selbst durch Speisen und Trank, ließ die Pferde grasen und nahm dann, als es Abend geworden war, seinen Weg wieder auf, nach dem schönen Stern, als seinem himmlischen Wegweiser, unverwandt ausschauend. – So ging’s rastlos fort über das weite Steppemeer, bis es schon halb zu Tode ermüdet, am Morgen des achten Tages endlich die blaue Wolgaberge vor sich liegen sah. Da stieg der gerettete Mann vom Pferde und brachte dem Gott seiner Väter herzinnigen Dank für seinen gütigen Beistand auf so weitem gefährlichen Wege. Einige Stunden später befand er sich bereits in einer deutschen Kolonie, erfragte den Weg nach dem heimatlichen Mariental und ritt, als eben die Sonne sich zum Untergange neigte, in die ihm nur zu bekannten Gassen ein, das Auge voll heller Freudentränen. – Von allen Seiten staunte man den sonnverbrannten Mann in der fremdartigen Kleidung auf dem Pferde verwundert an, ließ ihn aber, als man deutsche Laute von seinem Munde vernahm, ungehindert passieren. – So ritt er dann bis an den Karamanberg zu seines Vaters kleinen Hütte; noch wähnte er ihn am Leben zu finden. – Unterwegs hörte er die Kirchenglocken läuten und ein hochheiliges Gefühl überkam ihm, als ihm auf seine >Frage, was denn heute für ein Feiertag sei, ein Mann antwortete:"Das Fest der Himmelfahrt Mariä!" Was für Erinnerungen knüpfen sich nicht an diesen Tag! Die blutigen Erlebnisse vor gerade 12 Jahren, die Nacht an der Metschetnaja, der Kampf der Kirgisen mit den russischen Truppen, – wie er dann auf der Flucht von den Kirgisen mit fortgerissen und in ihr Land geschleift ward, zwölf Jahre bitterer Knechtschaft und harten Dienstes, die liebliche Kirgisenbraut und seine wunderbare Erlösung – das waren lauter Erinnerungen, deren jede eine ganze Welt umfaßte; – hier war ein Mensch, der davon reden konnte, was für eine lange, lange Zeit doch 12 Jahre sind in einem Erdenleben! Unter solchen hehren Gedanken kam eran seines Vaters Häuschen an; halb träumend stieg er vom Pferde und band die beiden schönen Tiere an einen dicken Zweig, das uns schon mehrfach bekannten Eichenbaumes, trat dann in’s indrige Gemach, um den alten Vater zu begrüßen. – Schön Ammi saß auf harter Holzbank und war in tiefe Gedanken versunken. Der schwere Tritt des Ankömmlings scheuchte sie auf, verwundert starrte sie den halbverwilderten Fremdling an, aber – Auge der Liebe sieht scharf und eine Ahnung, daß er heut‘ kommen müsse, hatte sie schon früher beschlichen: mit einem Schrei unaussprechlicher Freude, mit dem Rufe: "Hannmichel, bist du’s in der Tat?" lag sie an seiner Brust. Inzwischen war auch der alte Ortmann herbeigekommen; da gab’s ein Umarmen und Küssen, da gab’s helle Freudentränen, aus tiefstem Herzen geweint, da gab’s aber auch ein Loben des Herren, des mächtigen Königs der Ehre! Bald war das ganze Dorf am Karamanufer versammelt und nun mußte der Hannmichel erzählen von A bis Z, die ganze Geschichte seiner Leiden und seiner Befreiung, und manche Beileidsträne rollte während der schlechten, in recht unbeholfenem, mit kirgisischen Worten vermischten Deutsch vorgetragen Erzählung den alten Marientaler Männern über die gefurchten Wangen. Dem Heinrich Peter aber sagte der alte Ortmann zum Abschiede, er solle sich nur nicht grämen, daß die Ammi sein Weib nicht werden könnt‘, dafür solle er aber ihr Brautführer werden, und das schönste Band sollte ihm an den Hut gesteckt werden, und auf den schönen mitgebrachten kirgisischen Schimmel des Hannmichel solle er dabei reiten. Heinrich Peter mußte schon gute Miene machen zum bösen Spiel, wußte sich auch später den anderen Burschen gegenüber damit zu trösten, er habe die Schön Ammi doch beinahe bekommen, während sie doch den anderen Freiern geradezu einen großen schweren Korb erteilt habe. – Um’s Jahr hielt er Hochzeit und bewieß damit, daß er es nicht nötig erachtet habe, sich der Ammi wegen allzuviel graue Harre wachsen zu lassen.
  Noch in demselben Jahre wurden Hannmichel und Schön Ammi ein glückliches Paar. In Not und Trübsal gereift, war ihre ehrliche Liebe auch eine recht probehaltige und hat sich mancher Mann und manche Frau ein heilsam Beispiel an ihnen genommen. Der Hannmichel aber durch Standhaftigkeit im Leiden, durch Mut in Gefahr bewährt, warb von Stund‘ seiner Ankunft an männiglich der "Kirgisermichel" genannt.

Aus: Siedlernot und Dorfidyll, Kanonische Texte der Rußlanddeutschen (Hrsg) Annelore Braunschmidt, Seite 24 – 45

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