Geschichte der Russlanddeutschen

8 Kulturarchiv

8.2.3 Literarisches

8.2.3.5 DAS LIED VOM KÜSTER DEIS

Statt Vorrede.
  "Ich will meinen Mund auftun zu Sprüchen und alte Geschichten aussprechen, die wir gehöret haben und wissen, und unsere Väter uns erzählet haben, daß wir es nicht verhalten sollten ihren Kindern, die hernach kommen..." (Psalm 78, 2)

Märchenwelt

I. Kapitel

Weit, weit in der Stepp', wo Eulen
Wilde schreien, Wölfe heulen,
Kalter Sturm die Leute schreckt,
Und ein Silbermeer im Winter
Glitzernd Hütt' und Steppe deckt;
Wo bei Sturm die Hexen toben,
Auf dem Kirchturm tanzen oben,
Reisende vom Wege führ'n,
Pferde in den Ställen reiten,
Klopfen wütend an der Tür'n;
Die Vampyr' mit grünen Augen
An den jungen Müttern saugen,
Und der Alp die Männer drückt,
Und die alten Weiber brauchen,
Wenn ein Wiegenkind erstickt;
Zwischen elf und zwölf die bleichen
Toten aus den Gräbern steigen,
Schüchtern durch die Gassen geh'n,
Sachte in die Höfe schleichen,
Winkend vor den Fenstern steh'n;
Wo im Frühling aller Farben
Tulpen, überschüt't mit Garben
Goldner Strahlen, leuchtend blüh'n,
Bunte Schmetterlinge flattern,
Kraniche durch Lüfte zieh'n;
Lerchen trillern, Adler schweben,
Riesenspinnen Netze weben,
Wirbelwind das Feld behext,
Hexenkraut und Bärenklaue,
Ziegenbart und Fuchsschwanz wächst;
Aus den fernen Wolgawiesen
Abends wehen milde Brisen,
In dem Sumpf das Irrlicht winkt,
Die Rohrtrommel hohl erschallet,
Und im Gras der Glühwurm blinkt;
Viele Wundertöne klingen,
Laute Nachtigallen singen,
Schmachtend, in sich selbst verliebt,
Und verliebt in Nacht und Sterne
Schönere es nirgends gibt;
Wo die Träume sich erfüllen,
Was passieren wird enthüllen ...
Dort in jener Märchenwelt
War in einem deutschen Dörflein
Deis als Küster angestellt.
 

II. Kapitel

Das Dörflein Neuruslan, dessen Einwohner
und der Küster Deis.
Gottesfürchtige, gescheite,
Brave, bottmäßige Leute
Gründeten am Jeruslan
Dieses erste deutsche Dörflein,
Und sie nannten's Neuruslan.
Klein war's Dörflein:nur zwei Straßen
Deis und alte Männer saßen
Sommers abends vor dem Tor,
Und sie sprachen von Jehovah
Und vom Kaiser und Pastor.
Und bewunderten die Sterne
Und den Mond am Himmel ferne,
Der regiert die stille Nacht,
Wie die ganze Welt erschaffen
Wunderbar, voll Wunderpracht!...
Und von andern hohen Dingen
Sprachen sie ... Doch wiederbringen
Alle Reden kann man nicht:
Glücklich, die da schauten Deis von
Angesicht zu Angesicht.
Gottvertraulicher als heute
Waren damals auch die Leute:
Lebten sorgenlos und froh,
Schön geweißt war'n ihre Hütten
Und gedeckt mit warmem Stroh.
Seelenpärchen, auserkoren,
Zu gebären just geboren,
Splitterchen der Ewigkeit,
Sie vibrieren wie der Äther,
Füllen die Unendlichkeit.
Um den andern lieben Morgen
Machten sie sich wenig Sorgen:
Säeland hatten sie genug,
Jeder pflügte, wo er wollte
Mit dem selbstgemachten Pflug.
Doch geschah die nie in Eile!
"Eile, sprachen sie, mit Weile";
Ackerten bis Ende Mai,
Und, erst wenn der Winter drohte,
Machten sie ihr Steppenheu.
Selten, selten nur passierte,
Daß die Sommersaat fallierte:
Fruchtbar war das Land ja sehr,
Und der Ziegenbart schlug Wellen,
Schien von Ferne wie ein Meer!
Aber doch zu jenen Zeiten
Gab es Schulden bei den Leuten:
Jedes Frühjahr wurd geborgt
Und gemeinschaftlich für Samen,
Futter und für Brot gesorgt.
Lange Jahre später mußten
Ihre Enkel, die nicht wußten,
Wie entstanden war die Schuld,
Viele Tausende bezahlen ...
Doch sie taten's mit Geduld.
 

III. Kapitel

Die Beamten zu Neuruslan.
Dorfschulz war der alte Schrepper,
Kirchenvorsteh'r Glitsche Schepper
Und der glatte Himmelstab.
Sotnik war der dicke Fedka
Und Desjänik Derrmauls Jab.
Richter war der Zickepenner,
Lauter hochgeehrte Männer!
Ehre, dem die Ehr' gebührt,
Doch am meisten unter allen
War der Küster estimiert.
Weit und breit durch seine Reden,
Durch sein wundervolles Beten
War der Küster Deis bekannt;
Lebend, nahm er zu an Weisheit,
Starb, beweint von ganzen Land.
 

IV. Kapitel

Die Ämter und die Talente des Küsters Deis.
Wenn ich nur beschreiben könnte
Alle Ämter und Talente,
Die der Küster Deis besaß,
Aufsperr'n würde wohl mein werter
Leser staunend Mund und Nas!
Gibt's ein Amt des Küsters schwerer?
Deis war Küster, Kantor, Lehrer,
Organist und Sekretär,
Regent, Archivar und Feldscher,
Glockenläuter und noch mehr!...*
(* Auch Kolonieschreiber)
Himmlisch schön war seine Stimme,
Deischens laute, mächt'ge Stimme!
Wohl ein Wunder der Natur:
Alle Stimmen konnt' er singen,
Alle Lieder nach der Schnur!
Wenn er betete um Regen,
Aus den Wolken quoll der Segen!
War'n die Leut' den Regen müd',
Oder wollten Lehmstein trocknen,
Dann sang er ein andres Lied.
Manches hat er selbst gedichtet,
Doch die Werke sind vernichtet
Und verweht von Steppenwind ...
Wie viel teure Manuskripte
Uns schon so verloren sind!
Deischen glaubte nicht ans Brauchen
Und an Teufelsknittel rauchen,
Doch Gespenster trieb er aus:
Hat dem Glitsche Schepper einmal
Reneviert sein ganzes Haus!
Stammbäum' malen, komponieren,
Wandkalender ausklugieren
Konnt er auch, oh denkt euch nur
! Ja, das war ein Mann! Und dennoch
War er groß nicht von Statur:
Klein und fein, ein dürres Hälschen,
Hitzig wie ein Schwefelhölzchen,
Doch von jedermann geehrt,
Und die Kinder in der Schule
Strenge hat er sie gelehrt.
Von Natur war Deis nicht böse,
Herzensgut und liebte Späße,
Freundlich mit dem ärmsten Wicht.
Nur ein einz'ger war im Dorfe,
Den der Küster liebte nicht.
Sonst liebt' Deischen alle Leute,
Und der einz'ge, den er scheute,
Weil er lästerte gemein,
War der reiche Zelowalnik,
Großkopfs listiger Kasain.
Diesen Mann konnt' Deis nicht leiden,
Gab sich Mühe ihn zu meiden:
Sah, wie er die Leut' betrog,
Stets sie suchte auszubeuten
Und zum Saufen oft bewog.
Letzt'res machte Deis viel Schmerzen,
Doch wie freut' er sich von Herzen,
Wenn er hörte, daß im Ort
Viel' die Schenke boykotieren,
Aufgekläret durch sein Wort.
Solche ließ er grüßend kommen
Und, sehr freundlich aufgenommen,
Lehrte sie, daß Geld und Gut
Des so reichen Zelowalniks
Auf der Not der Trinker ruht,
Die Kabak, ein Stück der Hölle
Sei und aller Laster Quelle,
Der Kasain dem Mammon dient,
Und als solcher Höllendiener,
Auch die Hölle einst verdient.
Und begann in Schreckensbildern
Alle Höllenqual'n zu schildern
Und des Teufels Macht und List,
Und wie gräßlich, und wie häßlich,
Und wie grausam Satan ist!
Allen Männern und den Frauen
Kam bei seiner Red' ein Grauen
Und erblaßten wie die Wand;
Sie bekehrten sich und drückten
Dankend Deischens treue Hand.
Allen wünscht' er Gottes Segen
Auf ihr'n sittlich keuschen Wegen
Und erklärte freundlich wie
Mit dem Satan man muß kämpfen,
Und begeisterte stets sie.
Ferner machte ihm noch Sorgen,
Wenn er sah die Leute borgen
Bei dem geizigen Kasain
Schlechte Ware und noch zahlen
Dreißig Prozent obendrein.
Väterlich riet er den Leuten
Sich nicht lassen auszubeuten:
"Liebe Kinder, seid ihr dumm
Solche Höllenzins zu zahlen,
Gründet euch doch ein'n Konsum;
Soll der Wuch'rer sich des rühmen,
Was ihr selber könnt verdienen?
Herbst's Zeit habt ihr Geld genug,
Um euch gute War' zu kaufen
In der Stadt ohn' Lug und Trug;
Sonst bleibt ihr des Wuch'rers Beute."
Leichter atmeten die Leute,
Aufgeklärt durch Deis' Verstand,
Sannen ernster nach und drückten
Dankend Deischens treue Hand.
Und auch diesen wünscht' er Segen
Auf ihr'n wirtschaftlichen Wegen
Und erklärte freundlich wie
Man muß einrichten die Sache
Und ermutigte stets sie.
 

V. Kapitel

Deischens Unterricht in der Schule.
Kinder liebte Deis von Herzen,
Liebte manchmal auch zu scherzen,
Wenn die Kleinen waren müd',
Um die Schüler aufzuheitern,
Sang er manches schöne Lied.
Auch wurd's Einmaleins gesungen
Und getrallert mit den Zungen,
Lustig sangen sie, und wer's
Konnt' am besten, der kam rauf; am
Schönsten klang der sechste Vers.
Unaussprechlich war die Freude
Dann, wenn Deischen mit der Weide
Schlug laut an das A-B-C:
Aller Kinder Augen strahlten,
Seufzer stiegen in die Höh'!
Stimmlein frisch wie Frühlingstöne
Klangen froh, und Deischens schöne
Stimme sang so leise nach,
Stieg hinauf und fiel dann wieder
Tief herab wie Wellenschlag.
Draußen heulte laut der Winter,
Jubelnd klang der Chor der Kinder,
Acht'ten nicht auf Sturm und Schnee,
Und sie sangen froh und heiter:
Abcdefg!...
"Feder schneiden, Tinte rühren,
Buchstabieren, sillabieren,
Lieber möchte' ich Kuhhirt sein,
Winters wär ich frei, "stieß Deischen
In das A-B-C hinein.
"Wer das A konnt' außewendig,
Mußt' es lernen innewendig..."
Lieber Himmel, war das schwer!
Und genau betrachtet wurde
Jeder Buchstab' strack und quer:
K hat dem Kopf ein Kränzchen,
Q, das macht ein krummes
Schwänzchen
Und ist schöner als das O,
J hat einen spitzen Schnabel,
Wer das Z konnt', der war froh!
Schwerer noch war's Buchstabieren!
Deischen ließ die Finger führen;
Alle standen vor'm Altar
Krumm in einem großen Kreise,
Buchstabierten sieben Jahr:
We - a - es, was! I - es - te, ist!
De -a - es, das! I - es - te, ist!
Es - pe - er - a - ce - ha, sprach!
Deischen klopfte, und die Kinder
Buchstabierten schaukelnd nach.
"Hirr dr!s Piffercha macht Etka
Und der Hipper macht Plesetka!"
Gab am Ofen einer an;
Deischen nahm da seine Rute,
Beide waren übel dran.
Ü - ü, be - e - er, ber, über!
A - a be - e - er, ber, aber!
Buchstabierte weiter Deis,
Wischte sich mit seinem
Schnupftuch
Von der Stirne dicken Schweiß.
In dem A-Buch war ein Gickel,
Und der Gickel las ein Stückel
Wunderschön: "Kikiriki!"
Deischens A-Buch ist verschwunden,
Unsers fängt jetzt an mit "i"!...
Doch das schönste in der Schule
War, wenn Deischen auf dem Stuhle
Hinter'm Tisch im Altar saß,
Und mit Tränen in den Augen
Verse aus der Bibel las.
Oh, welch' Texte konnt' er wählen!
Und wie int'ressant erzählen
Von dem schönen Paradies,
Wo die schönsten Früchte reiften,
Blumen blühten frisch und süß,
Wunderbare Vögel sangen,
Aber wo es gab auch Schlangen,
Und die Eva ward verführt,
Und, weil sie nicht hört' und folgte,
Aus dem Garten ward geführt.
Wie seitdem die Leut' auf Erden
Sündhaft all' geboren werden,
Unglücklich sind überall,
Arbeiten und sterben müssen
Durch den ersten Sündenfall;
Und wie dann der liebe Heiland
Auf die Erd' kam tröstend, heilend,
Wie Er für die Menschen starb
Und mit Seinem Blut am Kreuze
Uns das Himmelreich erwarb;
Wie im goldnen Himmelsgarten
Jetzt die holden Englein warten
Auf ein jedes braves Kind,
Und welch himmlisch schöne Gaben
Droben zubereitet sind!
Oh, wie tief fiel jedes Wörtlein
In der Kinder reine Herzlein!
Und wie stille saßen sie
Seufzend harchend, selig
schwimmend
Hoch in heil'ger Poesie!
 

VI. Kapitel

Deischens's Liebe zu seinen Amtsbrüdern.
Menschen sind dann echte Brüder,
Wenn ihr' Herzen und Gemüter
Eine heil'ge Kraft verbind't
Und, in Harmonie vibrierend,
Eines Ganzen Teilchen sind.
Unaussprechlich war die Liebe
Und die zarten Herzenstriebe,
Die Deis zu den Küstern nährt'-
Seinen teuren Amtsgenossen,
Die unendlich ihn geehrt.
Liebten sich, weil sie sich
kannten,
Sich so wunderbar verstanden,
Oft mit einem halben Wort;
Duzten sich wie rechte Brüder...
Und die Kunst, das war ihr Sport.
Musizierten, komponierten,
Dichteten, philosophierten,
Haben Sirach gern zitiert,
Und den "Dada mit der Pfeif" und
Ihren Pfaffen fein kopiert.
Welche Witze konnt'n sie machen,
Und wie ließen sie sich lachen!
Pfiffen, wie die Nachtigall...
Aber gleich, wenn kam ein
Fremder,
Saßen still und ernst sie all.
Doch die treuen Amtsgenossen
Haben Tränen auch vergossen ...
Oh, wie wurden sie gedrückt
Unbarmherzig! ... Jeder andre
Wär' in ihrem Joch erstickt.
Aber treu sind die geblieben,
Fest und treu stets ihrem lieben
Volk, Beruf und Bruderpflicht!
Und wie unsre glatten Heuchler
Flohen in die Stadt sie nicht...
 

VII. Kapitel

Die Geschichte der Neuruslaner; das Leiden
ihrer Väter in den ersten Jahren nach
ihrer Ankunft.
14. Juni 1764.
Der Ruslaner Väter waren
Auch vor hundertfünfzig Jahren
Aus Europa emigriert,
Hatten sich laut Manifeste
An der Wolga etabliert.
Lange hatten sie zu leiden
Von den Horden roher Heiden.
Wild sah's an der Wolga aus:
Finst're Wälder, Fiebersümpfe,
Weit und breit kein Dorf, kein Haus!
Diebe irrten in den Feldern,
Blut'ge Räuber in den Wäldern,
In der Steppe der Kirgis,
Pugatschew und andre Feinde,
Niemand sie gedeihen ließ.
Wölfe heulten nah und ferne;
Traurig schimmerten die Sterne
Durch die Wolken in der Nacht...
Betend weinten junge Mütter,
Und die Männer hielten Wacht.
Heulend kam der kalte Winter;
Es erfroren Wiegenkinder,
Größ're jammerten um Brot,
An den Brüsten ihrer Mütter
Starben sie vor Hungersnot.
Die enttäuschten armen Brüder
Wollten heim nach Deutschland wieder,
Alle wär'n zurückgekehrt*,
Doch verraten von Pastoren,
Ward es ihnen nicht gewährt.
 

(*Lies "Geschichte der deutschen Ansiedler an der Wolga" von G. Bauer, Seite 16)

VIII. Kapitel

Das Kontor und die Pastoren.
Willkür herrschte im Kontore!
Die Beamten und Pastoren
Hausten frech zu jener Zeit,
Doch die braven Bauern glaubten
An der Pfaffen Heiligkeit.
Und die Herren vom Kontore
Inspektoren und Pastoren
Säeten zu der Sklavenzeit
Finsternis und Aberglaube,
Üble Heuchlerfrömmigkeit:
Manche haben auch gelogen,
Die Gemeinden schlau betrogen,
Aber welches "Schäflein" wagt,
Seinem "Hirten" nicht zu glauben?
"Der Herr Pastor hat's gesagt!!"
Hochmütig war die Geberde
"Christi Diener auf der Erde"
Damals, frech und ohne Scheu...
Nur die armen Küster blieben
Unsre Freunde lieb und treu.
Heilig schimmern ihre Namen,
Und der Bruderliebesamen,
Den sie liebend ausgestreut,
Der gedeihe, wachse, blühe
In den Herzen aller Leut'!
Die Historiker und Dichter
Sind der Menschen letzte Richter,
Unparteiisch ihr Gericht, -
Böse, wie die guten Taten
Bringen sie an Tages Licht.
Und verdammt, verflucht auf Erden
Werden die Verräter werden;
Hochgerühmt doch jedermann,
Ewig heilig dessen Name,
Der für's Volk was Gut's getan!
 

IX. Kapitel

Die Schreckenstage zu Mariental.
15. August 1776.
Aus der Stepp' in wilden Scharen
Kamen blutige Barbaren,
Überfielen Mariental ...
Aus der Hand fällt mir die Feder:
Unbeschreiblich Mord und Qual!
Zitternd betete und weinte
Hände ringend die Gemeinde
Laut vor Qual und Mörderhohn:
Steh uns bei, o Mutter Gottes,
Und sei unser Schutzpatron!
Todeshauch umhüllt' den Himmel,
Schrecklich war das Mordgetümmel,
Teuflisch war der Räuber Wut, -
Hunde heulen, Fenster klirren,
An die Wände spritz das Blut!
Mütterjammern, Kinder wimmern,
In den Straßen, Höfen Zimmern
Fließt das Blut und herrscht der
Tod!
In den Brunnen und im Karman
Ward das Wasser dunkelrot!
Viele hatten sich verkrochen,
Doch sie wurden auch erstochen,
Mancher hatt' sich brav gewehrt,
Die noch lebten war'n Gefang'ne,
Ganz Mariental zerstört!
Trurig blöckten Schafe, Lämmer,
Bitter weinten Mütter, Männer,
In die Stepp' durch's öde Tal
Trieben die Barbaren peitschend
Mensch und Vieh zur neuen Qual.
Kinder, die nicht konnten folgen,
Haben sie durchbohrt mit Dolchen
Und dem Steppengei'r zum Fraß
An dem Wege hingeschleudert,
Wimmernd, blutend auf das Gras ...
Unaussprechlich alle Plagen!
Weinen, beten, stöhnen, klagen
War barbarisch untersagt:
Knuten schwirrten auf den Rücken,
Wenn ein Herz zu seufzen wagt'.
Erfurt haben sie die Knochen
Am lebend'gen Leib zerbrochen,
Stachen ihm die Augen aus,
Schnitten "Riemen" aus dem
Rücken,
Schnitten ihm die Zunge raus ...
Aus den Händen der Barbaren
Retteten sie die Husaren,
Nachgeschickt zur rechten Zeit;
Aber wer beschreibt die Freude
der Geretteten und Leid,
Der Verwaisten Tränen, Klagen?!
Toten brachte man zwei Wagen
Aus der blut'gen Steppe heim! ...
Auf dem Platz, wo sie beerdigt,
Liegt noch heut' der Trauerstein.
Viele waren ganz verschwunden,
Und man hat sie nie gefunden ...
Nur drei Männer kam'n zurück,
Einer hieß Kirgisenmichel,
Märchenhaft war sein Geschick ...
Doch darüber ist erschienen,
Über's Schicksal dieses kühnen
Michels auch ein Büchelein,
Das wir öfter schon gelesen
Haben alle groß und klein.
Also kämpften unsre Väter:
Sich vermehrend, drang'n sie später
In die Stepp' gen Jeruslan,
Gründeten dort neue Dörfer,
Unter andern Neuruslan.
 

X. Kapitel

Die Kirgisen in Neuruslan.
1. Mai 1841
Auf dem Dach stand einmal
Deischen,
Flickte was am Küsterhäuschen;
es war im schönen Monat Mai,
Duftend dehnte sich um's Dörflein
Aus die grüne Steppe frei.
Millionen Stimmen klangen
Aus den Halmen und es sangen
Trillend Lerchen in der Luft,
Jedes Blümelein verbrei'te,
Liebe flüsternd, süßen Duft.
In den Gärtchen, hinter Zäunchen,
Blüten junge Kirschenbäumchen,
Auf das frische, zarte Laub
Goß die helle Frühlingssonne
Feur'gen Diamantenstaub.
Deischen sang. Er sah mit Freuden
Hinter'm Dorf die Herde weiden,
Seinen alten Fuchs gespannt,
Jubelnd spielten seine Kinder
Barfuß auf dem Hof im Sand.
- Guten Morgen, Heinevetter!
Ai-ja-jai, was schönes Wetter!
Rief Deis freundlich; jeden Mann,
Den er nah und fern erblickte,
Sprach er grüßend höflich an.
Es ist eine wahre Wonne,
Fuhr er fort: wie strahlt die Sonne!
Ai-ja-jai, sie meint's heut gut;
Gottes Gnade ist die Sonne,
Und sie reinigt Leib und Blut.
- Ja, mr hun jetz schönes Wetter,
Gab sich ins Gespräch der Vetter
Und er schielte in die Höh',
Stopfte seine Pfeif' und sagte,
Daß er geh' an "die derr See".
Auf dem Kirchplatz grasten
Schweine:
Rote, schwarze, große, kleine...
Und zwölf Ferkel mit der Sau;
Weiter unten, hinterm Zaune,
Krächzte eine alte Frau.
- Wem gehören jene Schweine?
Fragte Deis den Vetter Heine.
- Set Sai sei'm Kasai' sei' Sai,
Sell Sai, wart, wem söll sell sei'?
Aach
Sell Sai könnte sei' Sai sei'.
-Ist es wahr, die Leute sagen,
Ihre Alte tät sich klagen?
Hat sie nicht die Mutterplag?
- Hitze hot se, saht se, hätt se,
Schwitze, kotze tut se aach ...
ünschen Sie wol, daß ich bete
Für die Wes Kathrinmargrete?
- Bitt euch: glab se hot die Ruhr:
Lameliern tut se un jemern
Tag un Nacht in aner Dur!
Seufzend ging der Alte weiter,
Deischen rückte seine Leiter
Näher nach der Straße hin,
Traurig ward er, denn die Kranke
Kam ihm nicht mehr aus dem Sinn.
Plötzlich rief er seine Jungen,
Blitzschnell kamen zwei
gesprungen.
Kinder, Sprach er: geht mal schnell
Zu der alt Kathrinmargrete,
Bringt ihr Tee und Pipernell.
Kaum war's letzte Wort verklungen,
Sind auch beide schon gesprungen;
Satzten mutig in die Höh',
Und sie brachten schnell der
Kranken
Pipernell und guten Tee.
In dem Mistbeet kriegten Spatzen.
Zwei verzupfte graue Katzen
Saßen auf dem Stangentor,
Und sie wuschen sich die Fratzen,
Eine auch das linke Ohr.
Deischen scheuchte fort die Spatzen
Und beobacht'te die Katzen.
Du, rief er: heut gibt's Besuch,
Und die Gäste müssen kommen
Ganz bestimmt vom schwarzen
Bruch.
Gäst' empfing der Küster gerne,
Und er schaute in die Ferne
Aufmerksam nach Sonnaufgang;
Lange schaute er; vom Brunnen
Kam ein junges Weib und sang.
Als der Küster sie erblickte,
Grüßte er sie froh und nickte
Mit dem Kopf. In seinem Sinn
Dachte er, zwei volle Eimer
Das bedeutet oft Gewinn.
Und das Weibchen mit den Eimern
Trat zum Küster. Von Zigeunern,
Sagte, hätte sie geträumt
und von vielen, vielen Wölfen
Und vor Angst im Traum geweint.
Doch, was mag der Traum bedeuten?
Deischen konnte Träume deuten.
lle Träume sind von Gott,
Sprach er: und die Wölf' bedeuten
Große Angst und viel Klapott.
– Aber bitte, die Zigeuner?
Wie viel war'ns? Wohl mehr als
einer?
Zweie nur, der eine scheel.
- Das bedeuten Musikanten,
So erfüllt's sich, liebe Seel'!
Überzeugt ging Ambet weiter,
Deis sang wieder froh und heiter,
Plötzlich rief er: meine Treu,
Glaub', dort kommen die Kirgisen!
Flink die grasse Millis bei!
– Möglich sein's die schlechteGeister,
Sagte Millis, Herr Schulmeister:
Schwach sei' aach ma Aaga schun,
Schickt doch mol noch Wostra
Glasser,
Bettja, dui, die hun ka Hun!
In die Stepp' guckt Wostra Glasser,
In die Augen schoß ihm's Wasser,
Plötzlich schrie er: "Ach, Herr Jes!
Tausend schockmillion Kergiser!
Sterwa müß mr Millis Wes!
Deischen ließ zusammenläuten,
Um zu melden allen Leuten
Von der drohenden Gefahr,
Denn auch er sah jetzt ganz
deutlich,
Daß der Feind schon nahe war.
Und es eilten alle Leute
In das neue Schulgebäude
Aufgeregt. Der Schepper schrie:
Langsam , ihr dort laaft
manierlich,
Rennt net, wie das wilde Vieh!
In dem Schulhaus knieten nieder
Alle fromm und sangen Lieder
Oh, wie sang der Küster schön!
Plötzlich kamen die Kirgisen
An die Tür – und blieben steh'n.
Stehen blieben die Kirgisen
Wie erstarrt mit ihren Spießen;
So etwas, wie Deischen sang,
Hatten sie noch nicht gehöret,
Waren ganz entzückt vom Klang,
Von der Macht der schönen Lieder!
Höflich gingen alle wieder
Sachtig naus und machten zu
Leise hinter sich die Türen,
Ließen Neuruslan in Ruh'.
Deischen sprach: Ihr lieben Brüder,
Offenbart hat Gott sich wieder
Bei uns heut als treuer Hirt,
Und uns Schäfelein gerettet,
In der wilden Stepp verirrt.
 

XI. Kapitel

Das Freudenfest.
Unaussprechlich war die Freude
Und die Dankbarkeit der Leute:
Manche schenkten Deischen Wurst,
Andre brachten dünne Kuchen,
Fedka sorgte für den Durst.
Reich war'n aller Leute Gaben,
Leib und Seele konnt' sich laben,
Schrecklich lang nur ließ sie Deis
Mit dem vielen Beten warten,
Fedka leckt vor Durst den Schweiß.
Endlich sprach der Küster: Amen.
Eßt und trinkt in Gottes Namen.
Auf dem Tisch stand Supp' und
Brei,Alle saßen nach dem Alter
An dem Tisch in langer Reih'.
Langsam kauen sie und blasen,
Viele kriegen rote Nasen;
Fedka macht mitunter Spaß
Und gastiert die Gäst mit
Branntwein;
Viele nippen erst ans Glas.
- Trink's doch aus! Empört sich
Fedka:
Guckt nor, die do, was fer Etka!
Schrepper trank seins immer leer,
"Steht in guter Hand,"
sprach Berwel,
Fedka dankte für die Ehr:
"G'sundheit! rief er: Glück un Sega!
Seele bück dich: es kommt ein Rega!"
Und er stülpte es Gläschen um,
Alle lachten, und der Fedka
Schenkte lustig weiter rum.
Leichter ward's auf ihren Lungen,
Und der Weiber lange Zungen
Wurden weicher nach und nach;
Nach viel tiefes, schweres Seufzen
Eine zu der andern sprach:
– Gest Nacht stunne vor ma Fenster
Zwei abscheuliche Gespenster!
– Un bei Glitsche hot's gespukt...
– Wißt ihr schun, daß Derrmauls
Schnerch sich
On den Vollmond hot verguckt?
Von Politik spricht der Küster:
– England hat jetzt zwölf Minister
– Zwölf Minister! Guckt nur do!
– Un in Rußland is nor aner? ...
– Ja, die Sache sei' halt so.
Liewer aner, as wie kaner!
Un was hört mr vum Japaner?
– Der Japaner, liebe Leut,
Wird wohl Rußland einst
besiegen ...
– Aus is die Gerechtigkeit!
– Glab, die Welt, se geht bald
unner?
– For mich wär's aach gar ka
Wunner:
Schlaht nor in dr Bibel noch:
An die Römer steht geschriewa:
"Un He antwort'te un sproch ..."
– Un was schreibt jetz der Kalenner?
– Regenwetter, liebe Männer ...
– Hör mol, Fedka, du Filu,
Mach das Rockvieh net besoffa,
Horch dem Schulmaster mit zu!
Doch das "Rockvieh" ist schon selig;
Singen "Hosianna" fröhlich,
Die alt Ziert, die singt "Tenor"!
Ihre lauten Stimmen klingen
Laut wie ein Soldatenchor.
Fedka holte Musikanten
Den berühmten, weitbekannten
Schnerrpatsch und den scheelen
Lusch.
Ins Zimbal warf Fedka mutig
Neun Kopie und sang 'en Tusch.
Nach ihm sangen andre Männer,
Lauter auserlesne Sänger!
Und jetzt ging das Tanzen los:
Jeder pfiff sich seine Dame
Oder gab ihr einen Stoß! ...
Lustig trappeln sie und schreien,
Pfeiffen, tanzen ihr drei Reihen,
Schüttern tut das ganze Haus,
Und sie schwitzen, daß sie müssen
Ziehen ihr Wamskofta aus.
Deis blieb nüchtern nur alleine,
Denn Getränke trank er keine,
Niemals Schnaps, auch keinen Wein.
Ließ die Gäste jubeln, toben,
Philosophisch sah er drein.
Und die Gäste tanzen weiter;
Menschenwellen wogen heiter
In des Schleifers wildem Kreis.
Und der Boden Stöhnt und Zitterrt,
Und zu Qualm wird heißer
Schweiß.
Und die nassen Wände beben!
Schnerrpatsch spielt auf Tod und
Leben,
Lusch schlägt tapfer auf den Stahl, -
Und die laute Geige wirbelt,
Und es schmettert das Zimbal.
Millis schwänzelt, und der Fedka,
Himmel, macht der Kerl Plesetka!
Glitsche Schepper tanzt verkehrt, -
Berwel hat ihn umgestoßen,
Alle flogen auf die Erd!
Und sie quickern, kichern, lachen,
Und die Tisch' und Bänke krachen.
"Jesses, das geht kontra her,
Schrie der Schrepper: hör mol,
Schepper,
Tanz net immer kreuz und quer!"
nd 's Pläsier beginnt von neuem,
Alle stellen sich in Reihen,
Und der Schnerrpatsch, und der
Lusch
Spielen ihren Väter alten
Und schon halbvergessnen
Tusch:
"Aus der schönen Schweiz, aus
Schweden,
Aus den schönsten deutschen
Städten
Und aus Frankreich emigriert,
Haben sich am Wolgastrome
Unsre Väter etabliert.
Alle wurden Kolonisten,
Jäger, Künstler, Bauern, Fürsten
Gründeten ein neues Reich,
Schweden, Deutsche und
Franzosen
Wurden Brüder – alle gleich.
Brüder woll'n wir ewig bleiben,
Selbst der Tod soll uns nicht
scheiden,
Stirbt der Leib, es lebt der Geist!
Fest und treu in allen Zeiten,
Lustig, wenn es lustig heißt!
Schönheit, Poesie und Liebe
Nähren zarte Geistestriebe,
Und der Wein erfreut das Herz,
Frohe Lieder, liebe Brüder,
Jagen Leid und lindern Schmerz.
Darum trinkt und singt heut,
Brüder,
Trinkt und füllt die Gläser wieder
Alle voll mit süßem Wein!
Immer lustig, immer durstig,
Glücklich laßt uns heute sein!
Ehrlichkeit, die helle Sonne,
Treue Liebe – süße Wonne,
Einigkeit bleib unsere Kraft,
Ewig heilig unser Wahlspruch:
Freiheit, Gleichheit, Brüderschaft!"
Wieder hat der Tanz begonnen,
Fedka hat die Dick genommen
Und der Schrepper die alt Ziert,
Derrmauls Jab tanzt mit der Berwel,
Glitsche Schepper balanziert.
Und sie tanzen lustig weiter;
Menschenwellen wogen heiter
In des Schleifers wildem Kreis,
Und der Boden raucht und glühet,
Von der Decke tropft der Schweiß.
Und die nassen Wände tränen,
Beben, dröhnen, zittern, stöhnen,
Jubellärm steigt aus dem Tal,
Und die laute Geige wirbelt,
Und es schmettert das Zimbal!
Deis sang leise Gotteslieder:
"Blick in Gnaden auf uns nieder,"
"Christus unser Schutz und
Hort"...
Plötzlich, als es 11 geschlagen:
"Unsern Ausgang segne Gott!"
Und es gingen fort die Gäste,
ankten vielmal noch aufs beste
Deischen für die Lieb' und Treu'
Und entfernten sich im Dunkeln,
Durch die Kreuzgaß etwas scheu ...
 

XII. Kapitel

Der Küster allein mit seiner Familie.
Deischens Weib machte die Betten,
Wusch und legte ihre netten,
Lieben Kindelein hinein,
Und das kleinste in der Wiege
Sang mit zarter Stimm sie ein:
"Schlaf, mein Kind, es liegt noch
ferne
Alle Not und Qual,
Freundlich leuchten Mond und
Sterne
Über Berg und Tal.
Fest schließt noch der süße
Schlummer
Deine Äuglein zu,
Doch wie bald wird Schmerz und
Kummer
Stören deine Ruh.
Gerne will ich bei dir weilen,
Kind, die ganze Nacht,
Kann ich doch mit dir schon teilen
Was mich traurig macht.
Sollte jetzt dein Vater sterben,
Schwindsucht hat er schon,
Noch kein Hüttlein wirst du erben,
Nichts, meiner armer Sohn.
Nur sein gutes Herz läßt er dir,
Energie, Verstand,
Oh, das ist der schönste Schatz hier,
Kind, im ganzen Land.
Kaum 10 Jahr' alt, mußt du lernen,
Mußt schon fort so klein,
Und im Lande fremden, fernen
Bleiben ganz allein.
Weinend wird ich dich begleiten
In die Stadt, mein Glück,
Dort erst gibt's ein schweres
Scheiden
Wenn ich muß zurück.
Bitter werde ich da weinen,
Beten Tag und Nacht,
Daß der treue Heiland meinen Lieben Sohn bewacht.
Mit geb ich dir meine Bibel:
Wird's dem Herzen bang,
Schlag sie auf: sie schützt vorm
Übel
Dich dein lebenlang.
Eine Kraft enthält dies Erbstück,
G'heimnisvoll ist sie,
Ist errungen durch viel Unglück,
Tränen, Kummer, Müh'.
Fleißig nur, mein Söhnchen, lerne,
Leidest du auch Not,
Weinst du dir auch in der Ferne
Oft die Äuglein rot.
Treu dem Rufe deiner Väter
Wirst du Küster hier,
Wie du leiden wirst denn später
Sing ich weinend dir.
Küster-Lehrer wirst du werden,
Kantor-Organist,
Allen Menschen hier auf Erden
Stets ein treuer Christ.
Große Pflichten wirst du haben,
Schüler ohne Zahl,
Dann beginnt mit wilden Knaben
Deine große Qual.
Frei wird keine Stunde bleiben,
Arbeit, Tag und Nacht:
Lehren, Sänger üben, schreiben
Über Menschenkraft!
Und beerdigen und taufen,
Teilen Freud und Leid,
Auf den Gottesacker laufen
In der schlecht'sten Zeit.
Quält man dich gleich einem
Knechte,
Denk, mein Sohn, daran:
Große Pflichten, keine Rechte
Sind dir angetan ...
Wenn du krank, betrübt auf Erden
Deinen Dornweg gehst,
Wenn dir nichts zum Trost kann
werden,
Ganz verlassen stehst,
Deiner Mutter treuer Liebe,
Kind, gedenke du,
Schlaf, mein Sohn, der Mond wird trübe,
Schließ die Äuglein zu.
Gott, der Vater, wird dich
schützen
In der größten Not,
Auf sein Wort mußt du dich stützen
Bis in deinen Tod.
Wenn in Todesnacht wird toben
Regen, kalter Wind,
Richte deinen Blick nach oben,
Denk an mich, mein Kind ...
Schlaf, mein süßes Büblein,
schlummer,
Schließ die Äuglein zu,
Kennst jetzt weder Leid noch
Kummer,
Schlaf in süßer Ruh".
Müde von des Tages Sorgen,
Aufregung seit frühem Morgen,
Ging die Küster'n auch zu Ruh;
Sie verlas den Abendsegen
Und schloß müd die Augen zu.
Deischen saß im Nebenzimmer,
Halbbeleucht't vom Kerzenschimmer,
Sich erbaut an Gottes Wort,
Schrieb er ernste, heil'ge Worte ...
Stille war's im Haus und Ort.
Deischen schrieb die Leichenrede
Für die alt Kathrinmargrete,
Deren letzter Wunsch es war,
Daß der Küster sie beerd'ge,
Nur der Pastor nicht, bewahr'! ...
Und er schrieb und schrieb mit
Tränen,
Seufzte tief vor Schmerz und
Sehnen,
Manchmal stand er auf ganz sacht,
Schaute durch das offene Fenster
In die schöne, stille Nacht.
Alles schlief in süßen Träumen;
Von den weißen Kirschenbäumen
Fielen Blütenflocken ab,
Und die Sterne blickten freundlich
Aus dem Ozean herab.
Aus den fernen Wolgawiesen
Wehten leise milde Brisen;
Tief versteckt im Blütenraum
Des geheimnisvollen Gärtchens
Sang ein Vögelein im Traum.
Zarte Blümlein, nachtumwoben,
Schauten nach dem Himmel oben,
Schmachtend durch die dunkle
Nacht,
Wo die schönen hellen Sternlein
Leuchtend glüh'n in goldner Pracht.
Und die hellen gold'nen Sterne
Blickten strahlend aus der Ferne,
Winkten zu sich in die Höh'.
Flüsternd blüh'n die zarten
Blümlein,
Wein'n vor Lieb und Liebesweh ...
Plötzlich durch die Macht der
schönen
Nacht brach Deischen aus in Tränen,
Süß erwürgt vom heil'gen Schmerz.
Zitternd schlug in seinem Brüstchen
Laut das große treue Herz.
"Oh, wie sollt' ich dich nicht loben,
Schöpfer, der du thronst dort oben,
Wenn ich deine Werke seh'!"
Deischen faltete die Hände,
Schaute seufzend in die Höh.
Lang' noch sann und schrieb
der Küster ...
Lauter wurde das Geflüster
In dem duft'gen Blütenraum
Und das Lied des kleinen Vögleins,
Nun erwacht schon aus dem Traum.
Schon fing an der Tag zu grauen,
Es erwachten schon die Frauen,
Und der Hirt hatt' schon geknallt,
Als der Küster ging zu Bette ...
Übermüde schlief er bald.
 

XIII. Kapitel

An Deischens Grabe.
Tot ist Deischen, doch die Leute
Denken liebend sein noch heute:
Ihm zur Ehr' am ersten Mai
Feiern sie ein Fest alljährlich
In der Steppe frank und frei.
Und zu diesem großen Feste
Kommen viele, viele Gäste,
Kranke auch 'ne bunte Schar,
Denn an diesem Tag genesen
Viele Kranke jedes Jahr.
Lahme, Blinde, die nichts sehen,
Alte Greise, die kaum gehen,
Krumme Mütterchen am Stab,
Witwen kommen und versammeln
Sich um Deischens grünes Grab.
Alle haben festen Glauben
Und den läßt sich niemand rauben,
Er erquickt das kränkste Herz:
Schon ein Splitterchen vom Kreuze
Hilft vor Zahnweh, stillt den
Schmerz.
Auf dem Grab steht eine Linde,
Grün und frisch ist Blatt und Rinde,
Und sie blüht am ersten Mai,
Niemand weiß, wer sie gepflanzt
hat
In der Steppe leer und frei.
Aus dem Grabe wuchs die Linde!
Und wer sie verletzt, tut Sünde,
Oh, das weiß wohl jedermann:
Wieviel Wunder hat die Linde
Schon in Neuruslan getan!
Dieser Linde Kraft und Güte
Ist in ihrer süßen Blüte,
Daraus kocht man Frühlingstee,
Wer den Frühlingstee getrunken,
Ist geheilt von allem Weh.
An Deischens Grabe.
Tot ist Deischen, doch die Leute
Denken liebend sein noch heute:
Ihm zur Ehr' am ersten Mai
Feiern sie ein Fest alljährlich
In der Steppe frank und frei.
Und zu diesem großen Feste
Kommen viele, viele Gäste,
Kranke auch 'ne bunte Schar,
Denn an diesem Tag genesen
Viele Kranke jedes Jahr.
Lahme, Blinde, die nichts sehen,
Alte Greise, die kaum gehen,
Krumme Mütterchen am Stab,
Witwen kommen und versammeln
Sich um Deischens grünes Grab.
Alle haben festen Glauben
Und den läßt sich niemand rauben,
Er erquickt das kränkste Herz:
Schon ein Splitterchen vom Kreuze
Hilft vor Zahnweh, stillt den
Schmerz.
Auf dem Grab steht eine Linde,
Grün und frisch ist Blatt und Rinde,
Und sie blüht am ersten Mai,
Niemand weiß, wer sie gepflanzt
hat
In der Steppe leer und frei.
Aus dem Grabe wuchs die Linde!
Und wer sie verletzt, tut Sünde,
Oh, das weiß wohl jedermann:
Wieviel Wunder hat die Linde
Schon in Neuruslan getan!
Dieser Linde Kraft und Güte
Ist in ihrer süßen Blüte,
Daraus kocht man Frühlingstee,
Wer den Frühlingstee getrunken,
Ist geheilt von allem Weh.
Auf der Linde schlägt am Abend
Herzerquickend, seeleabend
Laut ein kleines Vögelein,
Seine traurig süßen Töne
Dringen tief ins Herz hinein.
Und die traurig süßen Töne
Pressen manche heiße Träne
Aus manch krankem, armen Herz;
Himmlisch singt das zarte Vöglein,
Lindert tröstend jeden Schmerz.
Und es dringt mit seinem Liede
In die Herzen Trost und Friede:
Schwachen gibt es Kraft und Mut,
Und den jungen Leuten Liebe,
Treuer Liebe heil'ge Glut.
Über'm Grabe leuchten Sterne,
Winken in die dunkle Ferne,
Wo die lieben Englein sind,
Lazarus und Deischens Seele
Und das holde Weihnachtskind.
 

Nowousensk, Weihnachten, 1913

Der Nachdruck folgte der Ausgabe: David Kufeld: Das Lied vom Küster Deis. Beitrag zu unserem 150jährigen Jubilöum 1764 – 1914. Saratow 1914. – Ein Nachdruck findet sich in: Heimatbuch der Deutschen aus Russland 1982 – 1984, S. 23 – 42

Aus: Siedlernot und Dorfidyll, Kanonische Texte der Rußlanddeutschen (Hrsg) Annelore Braunschmidt, Seite 48 - 64

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