Geschichte der Russlanddeutschen

8 Kulturarchiv

8.2.1 Quellen

8.2.1.35 DIE HUNGERSNOT IM WOLGAGEBIET

Gouvernement Samara
Von allen Gouvernements des Wolgagebiets, die von der Mißernte betroffen sind, hat am schlimmsten das Gouvernement Samara gelitten, wo der Ernteverlust die Dimension einer Naturkatastrophe angenommen hat. Die Mißernte hat alle Getreidearten und alle Uezdy des Gouvernements erfaßt. Mancherorts – das ist eine glückliche Ausnahme – erreichte die Ernte bei einigen Getreidearten die Punktzahl zwei (innerhalb eines Fünfpunktesystems), aber das ist sehr selten, meist sind die Felder zu fast nackter, verbrannter Steppe geworden. Der Zustand des Grases in den Uezdy Samara, Melekes, Buzuluk, Pugac(ev und Balakovo wird mit einem Punkt bewertet, nur im Uezd Buguruslan mit zwei. Auf einigen Feldern im Gouvernement fiel mehrmals Regen, die Saaten standen viel besser da, und man konnte immerhin auf eine geringe Ernte hoffen. Da brach eine neue Katastrophe herein – Heuschrecken, die alles Getreide und Gras wegfraßen.

Die prekäre Nahrungsmittelsituation in den Dörfern des Gouvernements Samara zwingt die Bauern, sich nach Ersatzlebensmitteln verschiedener Art umzusehen. Fast alle Gräser und Kräuter im Umkreis, ob eßbar oder nicht, sind schon aufgegessen. Eicheln gelten jetzt schon als Luxusnahrung. Aus Lindenblättern werden Pasteten gebacken, aber auch das alles ist bald zu Ende. Mancherorts nehmen die Bauern Meerrettich statt Getreide; die Meerrettichwurzeln werden zerrieben, dreimal mit kochendem Wasser aufgebrüht und getrocknet, und aus dieser Masse bäckt man Brot. Man erhält einen sehr weißen, dicken Teig. Sein Nährwert ist natürlich kaum der Rede wert.

Zur Charakterisierung des dort herrschenden Hungers mögen die Berichte der örtlichen Volostexekutivkomitees dienen, die melden, die Bekämpfung der Zieselmaus verlaufe efolgreich, diese Tiere würden jedoch überhaupt nicht in den Lagerhäusern des Rayon-Lebensmittelversorgungskomitees abgeliefert , da Fleisch und Haupt von den Bauern gegessen würden, wobei die Bevölkerung es fertigbringe, aus der Haut "Fleisch in Gelee" zu machen, das zur Nahrung verwendet wird.

Delegierte aus vielen Volosti sind in andere Gouvernements der Republik gereist, um Getreide zu kaufen.

Da sie kein Brot haben, schlachten die Bauern in sehr großen Mengen Vieh, das sie zum Teil verkaufen und zum Teil als Nahrung verwenden.

Die Übervölkerung nimmt weiterhin stark zu, vor allem im Uezd Pugac(ev.] Die Bevölkerung verkauft ihr ganzes Hab und Gut zu einem Spottpreis und macht sich mit dem Fuhrwerk auf den Weg nach Sibirien oder in die Ukraine. Einige Gehöfte sind völlig verlassen. Ein Teil der zu Hause gebliebenen Bevölkerung setzt ihre ganze Hoffnung auf den Gemüsebau und gräbt dort, wo es kein Wasser gibt, Brunnen zur Bewässerung.

Quelle: Po Povolju. V Samarskoj gubernii, in: Na bor`bu s golodom. Sbornik statej i materialov vypusk, Moskva 1921, S. 107 ff.

Gedruckt in: Sowjetmacht und Bauern. Dokumente zur Agrarpolitik und zur Entwicklung der Landwirtschaft während des "Kriegskommunismus" und der Neuen Ökonomischen Politik, hrsg. v. Stephan Merl

(Osteuropastudien der Hochschulen des Landes Hessen, Reihe I = Giessener Abhandlungen zur Agrar– und Wirtschaftsforschung des europäischen Ostens, Bd. 191), Berlin 1993, S. 128–130

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