Geschichte der Russlanddeutschen

8 Kulturarchiv

8.2.1 Quellen

8.2.1.37 MELDUNG DES HUNGER-UEZDPARTEIKOMITEES DER STADT PUGACEV

An den Vorsitzenden des Gouvernements-Exekutivkomitees von Samara, Gen. Antonov-Ovseenko
Kopie an das Gouvernementparteikomitee der RKP; Genosse Min`kov Der Uezd Pugac(ev liegt gegenwärtig im Todeskampf, er wird von einer schrecklichen Katastrophe heimgesucht – der Hungersnot. Auf Grund der Hungersnot breiten sich Epidemien aus, die Tausende Menschenleben fordern ... Alle Mittel, die eine Existenz, wenn auch untr größtem Hunger, ermöglichen könnten, sind erschöpft. Die Ernährung mit Ersatzlebensmitteln ist ebenfalls nicht mehr möglich, da Schnee die Erde bedeckt und sie nicht mehr gesammelt werden können. Fast das ganze Vieh ist vernichtet, und die Wirtschaft des Bauern verfällt. Indessen neigen die meisten Bauern dazu, das letzte Vieh umjeden Preis zu erhalten, sogar wenn sie dabei selber säen. Deshalb ist tatsächlich zu beobachten, daß ein Bauer, der ein Kamel, ein Pferd oder sogar eine Kuh besitzt, selber vor Hunger im Sterben liegt, aber die Tiere nicht schlachtet, um sich davon zu ernähren, weil er hofft, jemand werde bis zum Frühjahr am Leben bleiben und wenigstens ein wenig aussäen. Letzten Hrbst wurde beobachtet, daß Bauern die letzte Handvoll Korn in die Scholle warfen, um nicht die letzte Hoffnung zu verlieren, einmal in der Zukunft eine Ernte einbringen zu können. Auf die Gegenwart pfeift er und sagt: "Vielleicht komme ich doch irgendwie durch, wenn nicht , so nützt es den andern."

Die Bilder der Hungersnot im Uezd sind sehr, sehr grauenerregend. Es kam schon zu Kannibalismus. Die Leichen der Verstorbenen werden nicht vergraben, weil die Lebenden zu schwach sind, sondern in Speicher, Scheunen und Pferdeställen gelegt, manchmal liegen sie auch einfach auf der Straße herum, und da fängt man dann an, diese Leichen zu stehlen, sogar am hellichten Tag, um sein nacktes Hungerdasein zu retten. Folgende Fälle von Kannibalismus wurden festgestellt:

Dorf Kamenka: Die Bürgerinnen Ziganov (Mutter und Tochter) und die Bürgerin Pyskin aßen die Leichen ihrer beiden Kinder, dann erstachen sie zwei Frauen: die Bürgerin Fofanova aus Kamenka, die auch von den Kindern gegessen hatte, und eine unbekannte siebzigjährige Frau. Als auch diese Vorräte zu Neige gegangen waren, erstachen die Ziganovs die Bürgerin Pyskin. (...)

Dorf Bartenevka: Bei dem Bürger Filip Bartenev wurde bei einer Durchsuchung ein ganzer Kübel mit frischem Fleisch entdeckt. Bartenev gestand, er hab aus Hunger in der letzten Nacht zum 6. Januar einen unbekannten Mann, der zu ihm gekommen war, um zu übernachten, erstochen. Dem Leichnam war die Haut abgezogen und sogar das Gedärm gereinigt worden, um daraus Essen zu bereiten.

Dorf Ivanteevka: Die Bürgerinnen Volkova und Druzinina erstachen ein vierzehnjähriges Mädchen. Bei einer Durchsuchung wurden der Kopf, beide Beine und der hintere Teil des Rumpfes entdeckt; alles übrige war aufgegessen. (...)

Volost Kleveno. Das Volostparteikomitee für gegenseitige Hilfe stellte Fälle fest, daß Leichen gegessen wurden. Bei einer Durchsuchung wurden mehrere abgeschlagene Köpfe und kleine Stücke eines menschlichen Körpers gefunden. Nach den Worten von Bürger Volkow, der diesen Bericht erstattete, werden meistens das Gehirn und die weichen Schnekel- und Hüftteile als Nahrung verwendet.

Der Kannibalismus hat auch die Stadt erfaßt. So bemerkte Gen. Panasjuk (Angestellter in einer Funkstation) am Weihnachtstag um sechs Uhr früh auf dem Friedhof eine Tatarin, die ein Bein vom Leichnam eines Mannes abhackte und in eine Sack steckte. Panasjuk traute sich nicht, sie festzuhalten, da in der Nähe auf dem Friedhof ein kräftiger Mann herumstrich, der offensichtlich ebenfalls Fleisch suchte. (...)

Durch alle diese Vorkommnisse stumpfen die Menschen dermaßen ab, daß Leichen wochenlang auf Straßen und Landstraßen herumliegen, wie ich bei der Durchreise aus Samara bemerkte: Im Dorf Nikolaevka steckte die Leiche einer Frau schon drei Tage lang im Schnee auf der Straße; im Dorf Tavolozka liegt direkt an der Ortseinfahrt eine Frauenleiche auf der Landstraße, und über diese Leiche geht und fährt man; auf meine Frage: "Liegt die Leiche schon lange da?" kam die lakonische Antwort: "Ja." Ich habe den Vorsitzenden des Volostexekutivkomitees und den dienstältesten Milizionär dieser Dörfer wegen Untätigkeit verhaftet.

Mit der Ernährung der Bevölkerung sieht es folgendermaßen aus: Mit Zusatznahrung werden 30 bis 35 % der hungernden Kinder ernährt. Die Rayonsabteilung hat 99 Verpflegungsstellen eröffnet, wo insgesamt 1237 Kinder verpflegt werden. Die ARA unterhält im Uezd 235 Speiseräume, wo 50 101 Kinder verpflegt werden, und in der Stadt 8 Speiseräume für 4463 Kinder, außerdem gibt die Rayonsbabteilung für 2000 Kinder Lebensmittel an die Kinderheime ab, die von der Uezdgesundheitsbehörde betrieben werden. Die erwachsende Bevölkerung wird nirgens und von niemandem ernährt. Die Rayonsabteilung führt eine Lebensmittelversorgungsaktion aus Mitteln des Uezdkomitees für Hungerhilfe durch, die dieses aus der Ukraine erhalten hat. Im Dezember gingen insgesamt 7741 Pud an verschiedenen Lebensmitteln ein. Vom Gouvernementsverband erhielt die Rayonsabteilung seit August insgesamt 400 Pud Mehl und 800 Pud Fisch. Die Ernährung ist allgemein nicht normal, da nur Getreidelebensmittel vorhanden sind und es kein warmes Essen gibt. Auch in der Rayonsabteilung gibt es nicht genügend Getreidelebensmittel, und wenn sie nicht demnächst Nachschub erhält, muß sie die Lebensmittelausgabe reduzieren oder sogar ganz einstellen. Indessen erfordert die Situation der Bevölkerung, daß nicht weniger, sondern mehr Personen ernährt werden. (...)

Die Lebensmittel werden meist auf Kühen in die Dörfer gebracht, da die Bauern auch durch diese zu Nahrung, nämlich Milch, kommen. Deshalb versuchen sie auch, Kühe länger als das übrige Vieh zu halten. Unterwegs müssen die Transporte durch verstärkten Begleitschutz vor Plünderung durch die hungrige Bevölkerung geschützt werden. Die Fortbewegung zu Fuß im Uezd wird zu einem gewagten Unternehmen, da man überhaupt nicht davor sicher sein kann, unterwegs oder bei der Übernachtung in einem Dorf erstochen und aufgegessen zu werden.

Bei einer derart grauenerregenden Situation müssen wir auf allen Plätzen und an jeder Straßenecke nach schnellster, unverzüglicher Hilfe für die Bevölkerung schreien, die mit allen Kräften und Mitteln bis zum Frühjahr auszuhalten sucht, um doch noch irgend etwas zur Aufrechterhaltung ihrer Wirtschaft aussäen zu können und dem Staat nicht zur Last zu fallen.

Diese Bevölkerung gab ihre letzten Brotkrumen her, als der Hunger die Zentralgouvernement in seinem knöchernen Griff hielt, und wußte dabei ganz genau, daß sie selber Hunger leiden werde. Jetzt hat diese Bevölkerung das Recht, Hilfe zumindest im Rahmen der Hungernorm, wie sie im Zentrum festgesetzt wurde, zu erwarten, ja zu fordern. Im Zentrum hat die Not jedoch nie solche grauenerregenden Ausmaße angenommen. Das Gouvernement Samara, insbesondere der Uezd Pugac(ev, die Kornkammer Rußlands, wird zur Wüste und muß das Gnadenbrot von denen empfangen, die es früher ernährte.

Das fortschreitende Aussterben der Bevölkerung wird durch die medizinischen Daten der Uezdgesundheitsbehörde bezeugt. Diese Angaben, die allerdings bei weitem nicht vollständig und genau sind, sehen folgendermaßen aus: Im September erkrankten an verschiedenen Epidemien 2105 Personen, im Dezember 893, wegen Nahrungsmangels erkrankten imSeptember 4119 und starben 1603 Personen; im Dezember aber erkrankten 18 183 und starben 9309 Personen, wobei im Dezembe Angaben nur von 31 medizinischen Versorgungsstellen kamen. (...)

An das Uezdexekutivkomitee müssen direkte Anweisungen ergehen, welche Maßnahmen gegen Leichenesser zu ergreifen sind, da sich dies zu einer Sonderform bestialischer Vernichtung auswächst, sowie gegen die Ermordung lebendiger Menschen, deren Fleisch dann als Nahrung verwendet wird.

Anlage: Gesonderte Beschreibung der Fälle von Kannibalismus

15. Januar 1922, Stadt Pugacev, Gouvernement Samara

Quelle: Donesenie ukompomgoloda g. Pugac(eva. Predsedatelju Samrskogo Gubernskogo Ispolnitelnogo Komiteta tov. Antonovo-Ovseenko, in: Kniga o golode: Ekonomic(eskij, bytovoj, literaturno-chudozestvennyj sbornik, Samara 1922, S. 130-134

Gedruckt in: Sowjetmacht und Bauern. Dokumente zur Agrarpolitik und zur Entwicklung der Landwirtschaft während des "Kriegskommunismus" und der Neuen Ökonomischen Politik, hrsg. v. Stephan Merl
Osteuropastudien der Hochschulen des Landes Hessen, Reihe I = Giessener Abhandlungen zur Agrar- und Wirtschaftsforschung des europäischen Ostens, Bd. 191, Berlin 1993, S. 130-133

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