Geschichte der Russlanddeutschen

8 Kulturarchiv

8.2.1 Quellen

8.2.1.36 PROTOKOLL DER VERNEHMUNG DES LEICHENESSERS MUCHIN

Am 12. Januar 1922 sagte der von mir befragte Bürger Petr Kapitanovic Muchin folgendes aus:
Ich, Petr Kapitanovic Muchin, bin 56 Jahre alt und stamme aus Dorf und Volost Efimovka, Uezd Buzuluk, Gouvernement Samara. Meine Familie besteht aus fünf Personen: mir, meiner Frau und drei Kindern. Wir haben seit Ostern kein Brot mehr. Wir ernährten uns zuerst von Gras, Pferdefleisch, Hunden und Katzen, sammelten und mahlten Knochen. Bei uns gibt es im Umkreis und in unserem Dorf eine Menge Leichen, die auf der Straße herumliegen oder in der Gemeindescheune auf einen Haufen gelegt werden. Ich, Muchin, schlich abends in die Scheune und nahm die Leiche eines etwa siebenjährigen Jungen mit. Vorher hatte ich gehört, daß einige Bürger unseres Dorfes Menschenfleisch essen. Ich fuhr ihn auf dem Schlitten nach Hause, zerhackte die Leiche mit dem Beil in kleine Stücke, und abends kochten wir sie. Dann weckten wir unsere Kinder Natalja, 16 Jahre, Fedor, 12 Jahre und Afanaskij, 7 Jahre, und wir aßen alle zusammen. In einer Nacht und einem Tag aßen wir die ganze Leiche auf, so daß nur Knochen übrigblieben. Zu uns kam ein Mitglied des Dorfsowjets in die Wohnung und fragte, ob es stimmt, daß wir Menschenfleisch essen. Ich sagte, das stimmt. Man brachte mich zum Sowjet; warum sie meine Frau Aleksandra Charitonovna nicht auch mitgenommen haben, weiß ich nicht, sie aß auch mit uns zusammen. Bei uns im Dorf essen viele Menschenfleisch, aber sie verheimlichen das. Bei uns im Dorf gibt es einige öffentliche Speiseräume. Dort werden nur kleine Kinder verpflegt, von jedem Hof wird nur eins angenommen. Von meiner Familie wurden in einem Speiseraum die zwei Jüngsten verpflegt. Für jedes Kind gibt es 1 Pfund Brot, man kocht ihnen eine Suppe und sonst nichts. Im Dorf liegen alle entkräftet da und sind nicht in der Lage zu arbeiten. Im ganzen Dorf sind noch etwa sehn Pferde für 800 Höfe übrig. Früher gab es an die 2500 Pferde. Das war im Frühjahr letzten Jahres. An den Geschmack des Fleisches können wir un nicht erinnern, da wir das Menschenfleisch in herabgesetztem Zustand aßen (Gedächtnisschwäche). Bei uns gab es nie einen Fall, daß jemand umgebracht wurde, um Menschenfleisch zu bekommen. Bei uns gibt es Leichen genug, und wir haben nie auch nur daran gedacht, jemanden umzubringen.

Sonst kann ich nichts mehr aussagen, meine Aussage wurde mir vorgelesen und wurde nach meinen Worten richtig aufgeschrieben, was – da er Analphabet ist – für ihn durch Unterschrift bestätigt wird (Unterschrift).

Untersuchungsrichter Balter

Quelle: Kniga o golode: Ekonomiceskij bytovoy, literaturno-chudozestvennyj sbornik. Samara 1922, S. 139-141

Gedruckt in: Sowjetmacht und Bauern. Dokumente zur Agrarpolitik und zur Entwicklung der Landwirtschaft während des "Kriegskommunismus" und der Neuen Ökonomischen Politik, hrsg. v. Stephan Merl

Osteuropastudien der Hochschulen des Landes Hessen, Reihe I = Giessener Abhandlungen zur Agrar- und Wirtschaftsforschung des europäischen Ostens, Bd. 191), Berlin 1993, S. 133-135

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