Geschichte der Russlanddeutschen

8 Kulturarchiv

8.2.5 Schicksalswege — Erinnerungen

8.2.5.3.24 Ida Schmidt

Im Sommer 1941 gastierten wir wie in jedem Jahr mit unserem Tanzensemble in verschiedenen Städtchen und Dörfern des Wolgagebietes. Ende Juni kam der Krieg auch zu uns ins Land. Die deutschen Truppen hatten die Sowjetunion überfallen. Es herrschte Ungewissheit und Angst unter den Menschen. Dennoch musste das Leben in den Gebieten, die weit von der Front entfernt waren, ja weiter gehen. Das Tanzensemble in der Deutschen Wolgarepublik änderte etwas sein Programm. Das Fröhliche und Ausgelassene wurde entsprechend der allgemeinen Situation abgeschwächt, ernste und getragene Programmteile traten hervor. Dem Erfolg unserer Darbietungen tat das keinen Abbruch.
i. schmidt

Zu unseren Vorstellungen auf Dorfplätzen zu ebener Erde oder auf notdürftig errichteten kleinen Bühnen in den Städten kamen nach wie vor viele Leute. Es freute uns, dass wir auf unsere Art und Weise einen Beitrag zu den Verteidigungsanstrengungen leisten konnten, von denen das ganze Land geprägt war. Ende August ging unsere Tour zu Ende.

Ich erinnere mich noch genau an den offenen Lastwagen, mit dem wir in die Stadt Engels zurückkehrten, wo wir und unser Ensemble zu Hause waren. Wie unter Künstlern üblich, herrschte aufgrund unseres Erfolges gute Stimmung. Es wurde gesungen und immer wieder erzählte jemand von uns eine Schnurre oder etwas Lustiges. Das änderte sich abrupt, als wir in Engels, unserem Standort und unserer Heimatstadt, ankamen. Zuerst verstanden wir überhaupt nicht, warum die dort verbliebenen Kollegen in großer Verzweiflung waren. Sie redeten wild aufeinander und auf uns ein. Einige weinten. Es war eine chaotische Situation. Ich brauchte einige Zeit, um das Wichtigste zu verstehen. Er war von ganz oben gekommen, aus Moskau, der Ukas. Darin stand, dass wir alle, die Russlanddeutschen, innerhalb von 24 Stunden die Stadt zu verlassen hätten. Der Krieg mache das notwendig.

Unter der deutschen Bevölkerung im Wolgagebiet gäbe es viele Spione und Verräter, die die deutschen Faschisten unterstützen würden oder mit ihnen beim weiteren Vorrücken der Front zusammenarbeiten könnten. So lautete die offizielle Begründung für den Befehl zur Deportation. Meine Kollegen und ich, wir fühlten uns wie vor den Kopf geschlagen. Weg von hier, wohin, für wie lange? Wir Verräter? Spione unter uns? Diese Fragen kreisten im Kopf. Es gab keine Antworten.

Nach einer Zeit der Fassungslosigkeit ging ich dann zu meiner Schwester Valeria, bei der ich damals wohnte. Sie und ihre Familie sowie unsere Tante waren schon dabei, das Wenige zusammenzupacken, das uns erlaubt war mitzunehmen. Ein paar Kleidungsstücke, Wolldecken und einiges Werkzeug, darunter ein Beil und eine Säge. Tante schlachtete die Hühner. Das Fleisch legte sie in einen Eimer und bestrich es mit Schmalz, damit es wenigstens eine kurze Zeit konserviert blieb. Am nächsten Morgen standen schon die Pferdegespanne auf der Straße. Dort hatten wir unsere Habseligkeiten für den Transport zum Bahnhof abzulegen. Alles andere mussten wir zurücklassen, die gesamte Einrichtung des Hauses, darunter das noch fast neue Klavier, auf dem meine Schwester und mein Schwager so gern gespielt hatten. Auch die Haustiere blieben zurück, die Ziege und die Katzen.

Es dauerte fast den ganzen Tag, bis der Güterzug zur Abfahrt bereit war. Und wir, die Mitglieder des Deutschen Theaters, des Symphonieorchesters und des Tanzensembles, hatten den Vorteil, zusammen in einem Waggon unterzukommen. Der Bürgermeister von Engels, der als Deutscher auch mit dem Zug weg musste, hatte dies veranlasst. So blieb ich mit meiner Schwester, ihrer Familie und meinen Kollegen wenigsten vorerst zusammen. Als der Zug langsam aus dem Bahnhof fuhr und ein Teil der Stadt noch einmal an uns vorüberzog, verstummten die Gespräche. Jeder von uns war mit sich allein. Die Zukunft lag wie eine schwarze Wand vor uns, nichts war zu erkennen. Unsere Gedanken wanderten zurück. Jeder schaute wohl auf sein bisheriges Leben. Ich war 20 Jahre alt. Mein Leben als Erwachsene außerhalb der Familie hatte gerade erst begonnen.

Ich wurde 1921 in Urbach im Wolgagebiet als jüngstes von acht Kindern geboren. Meine Eltern waren keine Künstler. Vater arbeitete als Kaufmann, er hatte ein Kaufhaus in der Nähe des Bahnhofs. Mutter half ihm und versorgte den großen Haushalt der Familie. Urbach war ein Eisenbahnknotenpunkt. Dort ging von der Ost-West-Strecke die Süd-Strecke ab. Über 1 500 Menschen lebten in dem Ort. Viele Reisende stiegen in Urbach um und kamen als Kunden in Vaters Kaufhaus. In der Familie Schmidt spielt die Musik stets eine große Rolle. Vater spielte Klarinette, Mutter hatte eine schöne Sopranstimme. Noch im hohen Alter erfreute sie damit ihre Zuhörer. Es wurde viel Hausmusik gemacht. Wir Kinder lernten alle ein Instrument spielen. Gesang und Tanz gehörten zu unserem Leben.

Das Unglück traf uns, als Vater an Tuberkulose erkrankte, seine Arbeit aufgeben musste und schließlich verstarb. Ich war gerade erst zwei Jahre alt. Die Lebensverhältnisse der Familie verschlechterten sich. Die Ersparnisse waren schnell aufgebraucht. Meine Mutter und ihre Schwester, die bei uns lebte, schafften es nur mit großer Mühe, die Familie zu ernähren. Sie hatten ein kleines Stück Land und ein paar Haustiere. 1928 sind zuerst meine größeren Geschwister und dann meine Mutter mit mir nach Saratow gezogen. Sie sahen dort, was Arbeit und Berufsausbildung anbelangte, günstigere Möglichkeiten. Materiell verbesserte sich unsere Lage allerdings nicht viel. Das, was auf den Küchentisch kam, blieb bescheiden. Zum Anziehen hatte wir, die jüngeren Geschwister, wenig. Oft musste einer von uns zu Hause bleiben, weil die Sachen nicht für alle ausreichten. Wir mussten uns die Kleidungsstücke teilen, sie oft im Wechsel tragen und warten, bis der andere zurückkam. Mutter verkaufte Pflanzen und Blumen auf dem Markt. Einer meiner großen Brüder malte Landschaften von Postkarten ab, die meine Mutter ebenfalls zum Kauf anbot. Auch die schon verheirateten Geschwister trugen etwas zum Unterhalt von uns bei. Hinsichtlich unserer Ausbildung sah die Sache in Saratow besser aus. Meine Schwester Valeria konnte in Moskau Tanz studieren und begann dann am Deutschen Theater in Engels zunächst als Tänzerin und später als Schauspielerin zu arbeiten. Auch die anderen Geschwister konnten eine Berufsausbildung absolvieren. Ich besuchte zunächst die russische Schule in Saratow, die 8. Klasse dann in Engels, wohin wir inzwischen gezogen waren. Zwischendurch weilte ich bei einem meiner Brüder ein Jahr lang in Tadschikistan. Mein Weggang sollte Mutters materielle Situation entlasten.

Schon während meiner Schulzeit interessierte ich mich am meisten für Musik, Gesang und Tanz. Ich wirkte in der Chor- und Tanzgruppe der Schule mit und hatte da meine ersten Auftritte und kleinen Erfolge. Deshalb war meine Freude groß, als ich ab 1938 an der Musikschule in Engels Violoncello und Gesang studieren konnte. Für das Violoncello hatte ich mich entschieden, weil mein Schwager Imanuel Gensch, der Ehemann meiner Schwester Valeria, ein sehr guter Cellist war. Er hatte bei berühmten Lehrern in Moskau studiert. Als meine Schwester und er heirateten, spielte er schon im Symphonieorchester in Engels. Darüber hinaus leitete er ein Quartett, das sehr erfolgreich Kammermusik machte. Von Anfang an hatte ich so durch meine Schwester, die Schauspielerin am Theater, und meinen Schwager, den bekannten Cellisten, einen engen Kontakt zum Musik- und Theaterleben in Engels und in der ganzen Wolgarepublik. Schon während des Studiums wurde ich Mitglied des Deutschen Tanzensembles und bestritt den größten Teil des Programmes mit.

Das Theater- und Musikleben hatte sich in den 20er und 30er Jahren im Wolgagebiet sehr gut entwickelt. In Saratow, wo überwiegend Russen lebten, gab es zu meiner Zeit eine Oper und ein Konservatorium. In Engels waren vor allem die "deutschen Kunstinstitutionen" beheimatet - das Deutsche Theater, das Symphonieorchester, der Deutsche Chor und das Deutsche Tanzensemble. Das Theater war ein prächtiges Gebäude. Dort wurde in deutscher und russischer Sprache gespielt. Stücke deutscher Autoren wie Schillers "Räuber" und "Kabale und Liebe", aber auch Stücke von Molière und Shakespeare standen regelmäßig auf dem Programm.
Das Deutsche Quartett in Engels, in dem der Schwager von I. Schmidt spielte (1940)

Ich bin oft dahin gegangen, nicht nur um meine Schwester in einer bestimmten Rolle zu sehen, nein, mich faszinierte die ganze Atmosphäre im Theater, vor allem auch das Geschehen hinter der Bühne, die Proben und das Beisammensein der Künstler nach der Vorstellung. Wie gesagt, dank meiner Schwester und ihres Mannes hatte ich da schon sehr früh Zugang. Das Deutsche Tanzensemble bestand aus einem Chor und einer Tanzgruppe. Wir waren etwa 40 Leute. Ich wirkte in beiden mit, ich sang und tanzte. Im Programm waren deutsche Lieder, in erster Linie Volkslieder, aber auch bekannte russische Lieder. Es wurden unterschiedliche Tänze gezeigt, deutsche, russische, ukrainische und auch Tänze aus asiatischen und anderen Sowjetrepubliken.

Wir gaben unsere Vorstellungen in Engels, auf der Estradenbühne oder im Theater. Im Sommer zog das Ensemble immer über Land. Für mich als junges Mädchen war diese Zeit des Jahres besonders interessant. Ich lernte viel Neues kennen und konnte viele Eindrücke aus verschiedenen Teilen des Landes gewinnen. Nach den Vorstellungen saßen wir, die Ensemblemitglieder, meistens noch lange zusammen. Oft blieben auch Besucher. Wir schwatzten, sangen und tranken auch ein bisschen, um die Stimmung anzuheben. Wir fühlten uns als eine große Gemeinschaft. Die Nationalität, ob Deutscher, Russe oder Tatar - das spielte keine Rolle. Es war eine schöne Zeit. Ich wurde erwachsen, wurde mir meines beruflichen Könnens bewusst und ich merkte, wie sich in meinem Denken und Fühlen neue Dimensionen eröffneten.

Nun, das Leben war nach wie vor nicht einfach. Ich hatte mein kleines Stipendium. Damit konnte ich wirklich keine großen Sprünge machen. Aber es reichte für das Notwendigste. Ich wohnte im Studentenheim. Entscheidend waren die künstlerische Arbeit, die Kommilitonen und Kollegen, mit denen ich zusammen sein konnte. Und wichtig schien mir, eine gute Ausbildung zu bekommen und möglichst viel zu lernen. Wir hatten wirklich gute Lehrer vor Ort. Und, wenn es wünschenswert war, wurden auch Ensemblemitglieder zur weiteren Ausbildung nach Moskau geschickt. Der Deutsche Chor gehörte zu den besten in der Sowjetunion. Ich weiß nicht mehr genau, war es 1937 oder 1938, als der Chor beim Allunionswettbewerb in Moskau den zweiten Platz erringen konnte. Auch unser Tanzensemble hatte ein hohes Niveau. Ich war stolz, ihm anzugehören, bevor ich meine Ausbildung an der Musikschule beendet hatte. Ich war noch jung, hatte schon viel erreicht und weitere Erfolge erschienen mir sicher.

Sollte das nun alles mit der Deportation ein jähes Ende finden? Wird es uns weiter möglich sein, künstlerisch zu arbeiten? Das Diplom hatte ich von der Musikschule noch nicht bekommen. Darüber grübelte ich, während uns der Zug jeden Tag ein Stückchen weiter nach Osten, nach Sibirien brachte. Im Waggon wechselte tiefe Traurigkeit ab mit plötzlichen Heiterkeitsausbrüchen. Künstler können in der Gemeinschaft wohl nicht immer traurig sein. Wenn der Zug wieder einmal auf einem Bahnhof oder im freien Gelände für längere Zeit Halt machte und wir ausstiegen, griff einer zum Akkordeon oder zur Balalaika und spielte etwas Lustiges. So trat wenigstens für eine kurze Zeit die deprimierende Situation für uns etwas zurück. Ich erinnere mich noch sehr deutlich an die Szene, als meine Schwester, die hochschwanger war, mit einem Mal zu tanzen anfing. Sie tanzte die Hopsa-Polka und drehte sich zum Schluss wie ein Ball im Kreis. Und mit Tränen in den Augen sagte sie immer wieder aufs Neue "Wir schaffen es schon, wir schaffen es schon!" In Omsk, wo unsere Fahrt noch nicht zu Ende war, hat meine Schwester dann ihr drittes Kind geboren, in einer Ecke des Waggons, nur durch eine Decke notdürftig abgetrennt.

Nach Wochen, nach scheinbar endloser Fahrt kamen wir in Minusinsk, im Gebiet von Krasnojarsk gelegen, an. Zunächst wurden wir, die Familie meiner Schwester und ich, in einem Zimmer bei einer Russin untergebracht. Später gelang es uns, eine eigene kleine Wohnung zu finden. Valeria blieb nicht abwartend. Sie bemühte sich sofort mit dem kleinen Theater der Stadt Kontakt aufzunehmen und ein Programm zu organisieren. Es waren nur noch russische Stücke erlaubt. Ihr Mann gründete ein Trio und begleitete die Vorstellungen des Theaters musikalisch. Doch diese Arbeit dauerte nur wenige Wochen. Schon im November 1941 bekam mein Schwager den Befehl zur Trudarmee. Wir verabschiedeten ihn. Ich erinnere mich noch genau, er sah etwas seltsam unter den anderen einberufenen Russlanddeutschen der Stadt aus, weil er sein Cello mithatte. Es war ein trauriger Abschied. Wir sollten ihn und sein Instrument niemals wiedersehen. Kurze Zeit später ist er in der Trudarmee gestorben. Die genauen Umstände des Todes haben wir niemals erfahren.
i. schmidt mit ensemblemitgliedern des erdölbetriebs baschneft (1944)

Ich nahm seine Stelle im Trio ein. Aber auch mich ereilte nur wenige Wochen später das Schicksal, in die Trudarmee gehen zu müssen. Im Dezember 1941 kam in Minusinsk der Befehl, dass auch alle deutschen Frauen, die keine Kinder unter drei Jahren hatten, sich zum Abtransport bereit zu machen hatten. Ich habe die wenigen Kleidungsstücke zusammengepackt und mich nur leicht angezogen. Ich trug die feinen Strümpfe, die ich mir noch aufbewahrt hatte. Ich habe etwas Rouge aufgelegt und auch nicht vergessen, mir einen Hut aufzusetzen. Ich war jung, ich hatte eine gute Figur, ich wollte schön aussehen. Die meisten anderen zogen dicke, warme Sachen an. Dies war klüger, weil sie damit auf der langen Fahrt in den Norden nicht so sehr frieren sollten wie ich. Warum war ich damals so leichtsinnig? Ich glaubte wie viele andere auch, dass wir nur kurze Zeit weg sein würden. Die Deportation hätte mich eigentlich etwas anderes lehren sollen. Doch ich wollte es nicht wahrhaben, dass sich von nun an unser Leben radikal geändert hatte. Mein Schönmachen deute ich heute als eine Art von Verdrängung der Situation, in die wir damals geraten waren.

Auf dem Sammelplatz standen Pferdefuhrwerke, die uns zum Bahnhof brachten. Die Kinder der Frauen standen ebenfalls bei den Fuhrwerken. Als diese abfuhren, wollten die Kinder mit ihren Müttern mitgehen. Sie wurden gewaltsam zurückgehalten, sie schrieen und die Mütter weinten. Diese Bilder werde ich niemals im Leben vergessen. Es schmerzt noch heute im Herzen, wenn ich daran denke. Die Kinder über drei Jahre, die ohne Mutter zurückbleiben mussten, wurden bei anderen Frauen, Russinnen und Deutschen, oder in Waisenhäusern untergebracht. Sehr viele dieser Kinder sind "verloren gegangen", viele sind gestorben.

Der Güterwagen brachte uns nach Baschkirien. Ich gehörte zu den Frauen, die in der Stadt Sterlitamak, unweit von Ufa, den Zug verlassen musste. Ich war froh, dass ich diese lange Fahrt überstanden hatte. Es war im Waggon entsetzlich kalt. Wir hatten Hunger. Es gab nur sehr wenig zu essen. In Sterlitamak angekommen, bekamen wir als erstes Kerosin und Seife zum Entlausen. Die Rocksäume saßen voller Läuse. Viele Körperstellen waren wund. Wir mussten alles ausziehen. Die Bekleidung wurde in heißem Wasser gekocht. Nach drei Tagen war die Entlausungsaktion beendet.

Sterlitamak war ein Verwaltungszentrum der Erdölförderung in Sibirien. Wir waren etwa 60 Frauen, wir sollten in diesem Bereich eingesetzt werden. Unsere Unterkunft befand sich in einem großen Saal im Obergeschoss der Post. Dort standen unsere Pritschen und es gab einen Ofen mit sechs Kochstellen. Dort haben wir uns manchmal, wenn wir zusätzlich Essen ergattern konnten, etwas gekocht. Die Tagesration gab es in einer Stolowaja, einer Essenstelle, außerhalb unserer Unterkunft. Früh gab es die Tagesration an Brot, eine Suppe und abends eine Suppe. Mehr nicht. Ich aß das Brot meistens gleich auf einmal auf. Immer hatte ich schrecklichen Hunger. Meine Gefährten und ich, wir dachten: "Heute ist heute, morgen ist morgen." Der Hunger tat weh, er ließ es nicht zu, die Nahrung gleichmäßig über den ganzen Tag zu verteilen.

Die Arbeit, die wir im Erdölbetrieb Baschneft zu machen hatten, war für uns Frauen furchtbar schwer. Auf einem großen Lagerplatz standen große und schwere Aggregate der Erdölförderung. Sie sollten wohl überholt oder repariert werden. Wir mussten diese Aggregate von einer Stelle zu einer anderen Stelle des Lagerplatzes bewegen. Als Werkzeug hatten wir nur Brechstangen. Zentimeter um Zentimeter bewegten wir Geräte oft Hunderte von Metern weit. Eine Sisyphusarbeit, die wir viele Monate besonders im Winterhalbjahr zu verrichten hatten. Dort blieben dann die von uns umgesetzten Aggregate jedoch die ganze Kriegszeit über stehen, ohne dass sich einer ihrer annahm. Offenbar hatte man für uns keine nützliche Arbeit und wollte uns nur drangsalieren. Wenn wir nicht zu dieser sinnlosen Arbeit geführt wurden, mussten wir an den Fluss und Baumstämme von den Flößen an Land rollen und dort stapeln. Auch das war eine furchtbar schwere Arbeit für Frauen. Ich weiß heute nicht so recht, wie wir das alles durchgehalten haben. Es erscheint mir wie ein Wunder.

Unsere russischen Aufseher gingen zumeist sehr grob mit uns um. Sie trieben uns ständig zur Arbeit an und ließen uns kaum Ruhepausen. Aber ich will nicht verschweigen, dass es unter ihnen auch zuweilen freundliche und einsichtige Menschen gab.

Sie forderten uns nichts Unmögliches ab und hatten Verständnis, dass unsere geschwächten Körper auch mal eine längere Pause brauchten. Doch das war die Ausnahme, nicht die Regel. Eine besonders schlimme Sache werde ich nie vergessen, die mir im zweitem Kriegsjahr widerfuhr. Wir, eine Gruppe von etwa zehn Frauen, erhielten am Abend den Befehl, unmittelbar am Wirtschaftsgebäude eine Grube auszuheben. Dort an der Stolowaja sollte in den nächsten Tagen etwas angebaut werden. Genaues wurde uns wie immer nicht gesagt. Es war tiefer Winter. Draußen um die minus 50 °C. Wir bekamen schwere Hämmer, die an der einen Seite zu einem Beil geformt waren. Es war entsetzlich. Wir mühten uns in der eisigen Kälte die ganze Nacht über. Der Boden war so hart wie Beton gefroren. Am Morgen hatten wir lediglich ein eimergroßes Loch gegraben. Mehr war beim besten Willen nicht möglich gewesen. Als ich zurück in die Unterkunft kam, waren Teile meines Körpers ganz dunkel, fast schwarz vom starken Frost. Meine Kolleginnen rieben mich lange mit Tüchern und warmem Wasser ab. Nur sehr langsam kam wieder Leben in meinen fast erstarrten Körper. Die Grube wurde nie weiter ausgehoben, es wurde auch kein Anbau errichtet.
%" class="box">Sibirische Taiga-Landschaft

Zum Kriegsende wurde dann das Leben in der Trudarmee etwas leichter. Ich konnte nach der Schicht zweimal in der Woche in die Wohnung des Betriebsdirektors Putzen gehen. Seine Frau gab mir dafür etwas zum Essen. In einer Brotfabrik schleppte ich mit einer Freundin am Abend hin und wieder Mehlsäcke vom LKW in den Backsaal. Die Säcke waren ziemlich schwer.
Es war eine elende Buckelei. Doch wir bekamen dafür Brot und konnten uns wenigsten hin und wieder satt essen. Neben dem Essen war für mich genauso wichtig, dass ich auch künstlerisch wieder tätig werden durfte. Wie jeder große Betrieb damals in der Sowjetunion hatte auch Baschneft Gruppen des künstlerischen Laienschaffens. Irgendwie wurden die Verantwortlichen dort auf mich aufmerksam. Viele Mitglieder dieser Gruppen waren zum Militärdienst eingezogen. Es fehlt an Personal. Ich durfte mich vorstellen. Man war von meinem Können begeistert. Und schon nach zwei Tagen konnte ich in einer Veranstaltung mit Musik und Tanz auftreten und mein erstes Konzert geben. Tagsüber die schwere Arbeit, abends die Proben und die Auftritte - ja, das war hart. Doch ich verkraftete auch das. Wichtig war für mich: Ich konnte wieder etwas von mir als Mensch und als Künstlerin zeigen. Hinzu kam auch, dass ich im Laienschaffen nicht die verachtete Deutsche war, sondern ein völlig gleichberechtigtes Mitglied des Ensembles. Die russischen Kollegen achteten mich. Ich wurde ich keiner Weise diskriminiert. Das war abends im Laienschaffen so. Doch am Tage bei der Arbeit gehörte ich wieder zu den Zwangsarbeiterinnen, wurde als "Faschistin" beschimpft, die rechtlos war. Was für eine unsinnige Wirklichkeit!

Den 9. Mai 1945, den Tag des Sieges über den Faschismus, feierten wir ausgelassen. Wir hatten uns irgendwo Alkohol besorgt und waren fröhlich und ausgelassen. Wir sangen und tanzten auf der Straße. Nun, so glaubten wir, stände die Rückkehr zu unseren Familien und Verwandten nichts mehr im Wege. Doch wir hatten uns getäuscht. Die meisten von uns mussten bleiben. Wir, die Deutschen, durften nicht ohne Zustimmung den Arbeitsplatz und den Wohnort wechseln. Bis 1955 mussten wir uns bei der Polizei melden und waren Bürger zweiter Klasse.

Doch trotz dieser unverständlichen Restriktionen in der Kommandanturzeit änderte sich mein Leben und kam allmählich auf bessere Gleise. Bis 1969 arbeitete ich weiterhin bei Baschneft. Zuerst als Schlosserin in der Fertigung von Erdölgerätschaft, dann im Labor als Laborantin. Ich hatte die Kernproben von Bohrungen zur Erdölsuche zu analysieren. Gleichzeitig war ich weiterhin maßgeblich in der Musik- und Tanzgruppe des Betriebes tätig. Meine Mutter kam nach Sterlitamak und verbrachte bei mir ihren Lebensabend.

Die bitteren Kriegs- und Nachkriegsjahre konnten wir nicht vergessen und das uns zugefügte Unrecht nicht verzeihen. Die Deportation und die Zeit der Trudarmee haben die besten Jahre meines Lebens zerstört. Dennoch haben mich auch Schicksalsschläge später nicht verbittert. Mir blieb, Gott sei Dank, die Fähigkeit erhalten, mich noch an den schönen Seiten des Lebens zu erfreuen.

1950 wurde ihr Sohn geboren. Sein Vater ist Russe. Damals war er Militärangehöriger. Seine Vorgesetzten hatten etwas gegen das Verhältnis mit ihr, einer Deutschen. Sie setzten ihn unter Druck, sich von ihr zu trennen. Ida Schmidt hat ihn schließlich freigegeben. Das ist ihr schwer gefallen. Doch sie wollte seinem beruflichen Weg in der Armee nicht im Wege stehen.

Nach ihrer Arbeit bei Baschneft war Ida Schmidt, abgesehen von einer zweijährigen Unterbrechung, als sie in der Kulturabteilung der Stadtverwaltung angestellt war, in der Musikschule von Sterlitamak tätig. Sie lehrte das Violoncellospiel.

Seit 1976 ist sie Rentnerin, hat aber noch weitere zwei Jahre als Lehrerin für Violoncello gearbeitet.

1976 hat Ida Schmidt den verwitweten Karl Rotärmel geheiratet.

Seit 1994 leben beide in Berlin. Auch der Sohn von Ida Schmidt und einer der beiden Söhne von Karl Rotärmel und deren Familien sind nach Deutschland übergesiedelt.
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