Geschichte der Russlanddeutschen

8 Kulturarchiv

8.2.5 Schicksalswege — Erinnerungen

8.2.5.3.13 Irina Maslova

Irina Maslova wurde am 23. März 1985 in der Siedlung Wolodarskoje unweit der Stadt Kokschitaw in Kasachstan geboren.

Ihr Vater war dort Direktor einer größeren Autoreparatur-Werkstatt. Ihre Mutter arbeitete als Buchhalterin.

Im September 1996 siedelten die Eltern mit Irina und ihrer jüngeren Schwester nach Deutschland um. Sie leben jetzt in Berlin.

Irina besucht die Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe.

Als wir Ende September in Deutschland ankamen, konnte ich fast kein Deutsch. Ich hatte zwar Deutsch als Fremdsprache in der Schule in Kasachstan zu lernen begonnen, doch ich konnte erst wenige einfache Sätze sprechen. In der Schule meinte man, dass ich die 5. Klasse, die ich gerade in Kasachstan beendet hatte, noch einmal absolvieren müsste. Der Direktor nannte mehrere Gründe für diese Entscheidung: Das Schuljahr lief schon eine Weile. Meine Deutschkenntnisse waren unbefriedigend. Und ich hatte in Kasachstan noch keinen Englischunterricht gehabt, der hier ab der 5. Klasse Pflichtfach ist.

In der ersten Zeit habe ich im Unterricht fast nichts verstanden. Ich war nur stiller Beobachter. Erst allmählich im Laufe des Schuljahres habe ich die deutsche Sprache im Groben gelernt. Es war wie ein dichter Nebel. Zuerst verstand ich nicht einmal, worüber sie im Unterricht sprachen. Nach und nach lichtete sich der Nebel. Ich bekam zuerst die Umrisse der Gespräche mit und verstand dann immer mehr von ihrem Inhalt. Details oder gar Feinheiten blieben mir aber noch sehr lange verschlossen.

Ich fühlte mich damals ziemlich einsam in der Klasse. Meine Mitschüler empfingen mich nicht unfreundlich. Sie waren schon an mir interessiert und wollten von mir wissen, wo ich herkam und welche Meinung ich zu bestimmten Dingen hatte. Doch die Kontaktversuche scheiterten schnell daran, dass ich mich nicht so richtig zu äußern vermochte. In der Klasse war außer mir noch eine Schülerin, die mit ihren Eltern aus Russland nach Deutschland übergesiedelt war. Wir hatten die gleichen Probleme, wir gehörten nicht so richtig dazu und konnten uns aber in Russisch unterhalten. Da war es selbstverständlich, dass wir beide eng zusammenrückten.

Die Lehrer haben sich bemüht, uns in unserer schwierigen Situation zu helfen. In jeder Woche gab es für uns Aussiedlerschüler Förderunterricht in Deutsch.

Da habe ich viel gelernt. Auch die Fachlehrer hatten Verständnis für meine Situation. Als ich schon mehr Deutsch verstand und dem Unterricht folgen konnte, haben sie mir nach Beendigung der Unterrichtsstunde oft noch das erklärt, was ich nicht oder nicht so richtig verstanden hatte. Das hat meine Lehrer sicherlich zusätzliche Zeit und Mühe gekostet. Sie haben mich aber niemals abgewiesen oder unwillig reagiert. Das war schon okay von ihnen.

Jetzt bin ich in der 8. Klasse. Die sprachlichen Probleme sind fast weg. Nun ja, ich spreche noch ein bisschen mit Akzent. Manchmal schaue ich etwas neidisch auf meine Schwester Tatjana. Sie ist neun Jahre alt und spricht als einzige in unserer Familie Deutsch akzentfrei. Doch ich bin sicher, dass ich das auch noch schaffen werde. Meine Leistungen in der Schule sind nicht super, aber auch nicht schlecht, so guter Durchschnitt. Nur in Deutsch hapert es noch in der Grammatik und der Rechtschreibung. Da passieren mir noch zu viele Fehler.
Alexanderplatz in Berlin

Was die Art und den Inhalt des Unterrichts anbetrifft, habe ich beim Wechsel von der Schule in Kasachstan zur deutschen Schule keine allzu großen Unterschiede festgestellt. Die Lehrpläne für die fünfte Klasse zum Beispiel waren aber vollkommen unterschiedlich. In Kasachstan erschien mir der Unterricht insgesamt intensiver und der Lehrplan mit mehr Inhalt gefüllt zu sein. Ich glaube, dass wir da mehr zum Lernen angehalten wurden.

Hier in Deutschland fällt mir vor allem ein Unterschied sehr stark auf: Das Lehrer-Schüler-Verhältnis ist anders, es ist viel lockerer und legerer. Ich finde das nicht immer in Ordnung. Was sich hier manche gegenüber den Lehrern herausnehmen, das habe ich in Kasachstan nicht erlebt. Auch dort gibt es aufsässige Typen unter den Schülern. Doch selbst diese trauen sich nicht das, was hier viele drauf haben. In Deutschland sprechen die Jugendlichen mit weit weniger Respekt über oder mit Erwachsenen. Erwachsene einfach zu duzen, wie das hier oft geschieht, war bei uns in Kasachstan undenkbar. Dort hat man mehr Achtung vor den anderen ..., mehr - wie soll ich es sagen - mehr Ehrfurcht, besonders gegenüber älteren Leuten.

Mein Vater hat - und darüber sind wir alle ganz happy - seit zwei Jahren eine feste Arbeit in einer Autoreparaturwerkstatt. Ich denke, es gefällt ihm dort ganz gut. Nicht so gut steht es mit meiner Mutter in dieser Hinsicht. Sie hat eineinhalb Jahre lang beim Roten Kreuz gearbeitet. Das hatte ihr das Sozialamt vermittelt. Jetzt sucht sie schon seit einer Weile eine feste Stelle. Es ist sehr schwer, etwas zu finden. Es gibt so viele Arbeitslose und außerdem spricht sie noch nicht so gut Deutsch.

Meine Eltern legen Wert darauf, dass meine Schwester und ich in der Schule gut zurechtkommen. Vor allem Papa möchte, dass ich das Abitur mache und dann an der Uni studiere. Er hilft mir häufig bei den Schularbeiten, vor allem in Physik, Chemie und Geografie. Mutti ist meine Ansprechpartnerin, wenn es um Mathe geht. Als gelernte Buchhalterin versteht sie davon ziemlich viel. Besonders Papa interessiert sich für Politik. Er verfolgt immer die aktuellen Nachrichten hier, aber auch über Russland und die übrigen GUS-Staaten. Zuweilen spricht mein Vater mit mir über diese Fragen und gibt mir Artikel zum Lesen. Wir haben außer der deutschen auch eine russische Zeitung. Politik ist zwar nicht ganz mein Ding. Es gibt für mich wichtigere Sachen. Doch ich entziehe mich auch nicht ganz Papas Bemühen, mein Interesse für das politische Geschehen zu wecken.

Meine Eltern sind wirklich ganz okay. Wir haben miteinander keine größeren Probleme. Ich weiß, dass meine Eltern nicht viel Geld haben und sich nicht viel leisten können. Trotzdem kaufen sie mir bestimmte Sachen zum Anziehen, die ich gern haben möchte, Markenklamotten, die manchmal schon ziemlich teuer sind. Nicht gleich, aber nach einer gewissen Zeit machen sie es dann doch irgendwie möglich. Dafür bin ich ihnen echt dankbar. Eine Sache bekümmert mich allerdings: Meine Eltern sind, so meine ich, ein bisschen zu streng. Ich muss um 20 Uhr zu Hause sein. Andere in meinem Alter dürfen länger wegbleiben. Auch dann, wenn wir in unserer Clique zur Disko in den anderen Stadtbezirk fahren wollen, wo sich vor allem Russlanddeutsche treffen, dann geben sie mir nur manchmal die Erlaubnis dazu. Ich verstehe schon, sie wollen mein Bestes, sie fürchten, dass mir abends oder nachts in der Stadt etwas zustoßen könnte. Trotzdem könnten sie mir etwas mehr erlauben. Ich bin doch schon fast 16 Jahre alt...

In der Klasse komme ich mit meinen Mitschülern im Allgemeinen gut aus, natürlich mit einigen mehr, mit anderen weniger. Das ist wohl normal. Mit einigen bin ich näher befreundet. In den Pausen stehen wir beieinander, quatschen und helfen uns beim Lernen. Da spielt es keine Rolle, dass ich erst seit vier Jahren in Deutschland bin. Ich spüre innerhalb der Klasse mir gegenüber keine Vorurteile. Anders ist es außerhalb der Klasse. Bei uns in der Schule gibt es viele, die rechts sind. Sie kleiden sich dementsprechend, sind für Gewaltanwendung und haben was gegen Ausländer. Häufig muss ich von ihnen hören: "Was willst du hier. Hau bloß bald wieder ab nach Russland!" Es sind vor allem Mädchen, die das sagen. Die rechten Jungs sind etwas zurückhaltender, weil die Jungs sich gegenseitig etwas bremsen. Wenn einer anfängt, dann entgegnet meistens ein anderer: "Lass sie mal in Ruhe! Zu Mädchen sagt man so etwas nicht." Viele verstehen nicht, dass ich hier keine Ausländerin, sondern Deutsche bin. Oft werde ich auch von anderen Schülern gefragt: "Willst du immer hier bleiben? Wann gehst du mit deiner Familie wieder zurück nach Russland oder Kasachstan?" Ich frage mich dann immer: Ist das Ausdruck ihrer Unkenntnis über Russlanddeutsche oder wollen sie mich einfach bloß provozieren?
Im Computer-Kurs für Mädchen und Frauen

Außerhalb der Schule bin ich meistens in unserer Clique. Wir sind etwa 25, die sich regelmäßig im Wohngebiet treffen. Fast alle sind Übersiedler. Wir setzen uns irgendwo hin, hören Musik, gehen ins Kino oder zur Disko. Meistens quatschen wir über das, was wir gerade in der Schule erlebt haben. Wir Mädchen sprechen über "interessante" Jungs, meist aus den oberen Klassen. Die Jungs in unserer Klasse sind noch ein bisschen "klein" und oft auch zu albern. Wir unterhalten uns aber auch über "früher", als wir noch in Kasachstan, Russland oder anderswo in den GUS-Staaten zu Hause waren. Meistens sprechen wir Russisch, zuweilen auch gemischt Russisch und Deutsch. Manches läßt sich auch in Deutsch einfacher sagen. Obwohl wir alle ziemlich gut Deutsch können, reden wir lieber Russisch miteinander. Wir machen das nicht bewusst, wir überlegen nicht, die Sprache kommt ganz von selbst.

Es ist auch nicht so, dass wir uns von den "einheimischen" Jugendlichen abgrenzen wollen. Nein, wenn sie zu uns in die Clique kommen, dann haben wir nichts gegen sie. Doch die "Einheimischen" bleiben in der Regel nicht lange. Abgesehen davon, dass sie kein Russisch verstehen, werden in diesem Rahmen bald ziemliche Unterschiede deutlich. Sie wissen nichts von unserem früheren Zuhause und interessieren sich auch nicht wirklich dafür. Sie kennen nicht die Probleme, mit denen wir hier unmittelbar nach der Übersiedlung zu tun haben, die Sprachprobleme und die Probleme unserer Eltern, hier Arbeit zu finden. Sie können sich nicht in unser Leben hineinversetzen. Sie wissen nicht, wie wir uns fühlen, wenn uns Leute mit Vorbehalten entgegentreten.
Geschäft für russische Produkte in Berlin

Und umgekehrt verstehen wir die "Einheimischen" nicht immer. Manches ist uns fremd, oder anders gesagt, noch fremd. Die Art des Umgangs miteinander, die Art Spaß zu machen oder Witze zu erzählen. Ich glaube, es ist von keiner Seite irgendwie eine böse Absicht, dass wir in der Freizeit noch oft getrennte Wege gehen. Es ist so. Und so sollten wir es auch hinnehmen. Irgendwann wird sich das bestimmt ändern. Ich habe da keine Befürchtung. Es ist bestimmt nichts Schlechtes.

Anders sieht es aus, wenn wir mit anderen Cliquen, rechtsorientierten Gruppen von Jugendlichen, in Berührung kommen. Manche von ihnen suchen bewusst die Auseinandersetzung mit uns und wollen Schlägereien anfangen. Wir Mädchen versuchen dann immer unsere Jungs zurückzuhalten und uns nicht provozieren zu lassen. Einige von uns und auch ich gehen manchmal zu Gesprächen in den Kirchenladen unseres Wohngebietes. Dort treffen sich "Einheimische" und Jugendliche aus Aussiedlerfamilien. Wir diskutieren auch darüber, wie Gewaltbereitschaft und Gewalt abgebaut und wie mehr gegenseitiges Verstehen und Toleranz aufgebaut werden könnten. Ich hasse Gewalt und finde es schändlich, wenn große Schüler mit Gewalt gegen schwächere vorgehen, sie schlagen und ihnen Zigaretten oder andere Dinge wegnehmen. Vielleicht trägt meine starke Abneigung gegen Gewalt auch dazu bei, dass ich mal Kriminalistik studieren und bei der Polizei arbeiten möchte.

Neulich hat mich jemand gefragt: "Was meinst du, bist du in deinem Verständnis mehr Russin oder mehr Deutsche?" Ich stutzte erst eine Weile, bis ich antworten konnte. So hatte ich mir die Frage noch nicht gestellt. Was bin ich? Nun, von der Staatsbürgerschaft her bin ich Deutsche. Das ist keine Frage, das steht im Ausweis. Vom Gefühl bin ich wohl beides, Russin und Deutsche. Ich sehe darin keinen Widerspruch. Ich wurde in Kasachstan geboren und habe dort meine ersten elf Lebensjahre verbracht. Unser Einfamilienhaus, die Erinnerungen an meine Spielgefährten, die Ferien bei meinen Großeltern. Russisch ist meine Muttersprache im wörtlichen Sinne des Wortes, denn meine Mutter ist von Geburt Russin. Wir haben Verwandte in Russland, die wir sicher mal besuchen werden. All das ist da und nicht wegzuwischen, von dieser Seite bin ich russisch geprägt.

Und jetzt lebe ich in Berlin, in Deutschland. Ich spreche neben Russisch auch Deutsch, gehe zur Schule, habe "einheimische" Freunde, werde sicherlich einmal studieren und hier eine Familie haben. Also bin ich auch Deutsche. Ich weiß nicht, warum manche Leute Dinge so kompliziert machen und dort irgendwelche Widersprüche sehen wollen, die ich nicht empfinde. Ob ich mal in zehn oder 20 Jahren die Frage genau so oder anders als jetzt beantworten werde, weiß ich nicht.
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