Geschichte der Russlanddeutschen

8 Kulturarchiv

8.2.5 Schicksalswege — Erinnerungen

8.2.5.3.11 Lora Richter

28. April 1947. Der kräftige Wind vom Fluss her flaut gegen Morgen etwas ab. Doch noch immer ziehen dunkle Wolken in rascher Folge über den Himmel. Langsam dämmert der Tag, die Konturen am Horizont zeichnen sich deutlicher ab. In einem der Fenster der kleinen hölzernen Baracken, die um einen rechtwinkligen Platz stehen, ist die ganze Nacht über das Licht nicht ausgelöscht worden. Einige Frauen schlafen nicht, sie haben dort Stunde um Stunde gewacht und versorgen nun das gerade geborene Kind und die erschöpfte Mutter. In dem Arbeitslager unweit der Stadt Sysran an der Wolga befinden sich nur Frauen. Außer einem Jäckchen und einer kleinen Hose, die jemand irgendwo beschaffen konnte, gibt es keine Babysachen. Frischgewaschene Arbeitsbekleidung und eine neuere Wolldecke müssen ausreichen. Die Frauen legen das kleine Mädchen neben die Mutter auf die Pritsche. Es erhält den Namen Larissa, doch bald wird es nur noch Lora genannt werden.

53 Jahre später. Lora Richter erzählt: "Meine Mutter war damals schon fünf Jahre lang in diesem Lager. Und 1947 bei meiner Geburt hat sie sich bestimmt nicht vorstellen können, dass sie mit mir noch weitere fünf Jahre dort würde bleiben müssen.
Geburtsurkunde von l. richter

Offiziell wurden zwar die Arbeitslager für die deutschstämmige Bevölkerung - das heißt das Regime der Zwangsarbeit und die militärische Bewachung - Anfang 1946 beendet, doch faktisch änderte sich in Sysran bis 1952 nur wenig. Die Frauen, junge und ältere, wurden weiterhin festgehalten, sie waren an ihre Arbeitsplätze gebunden, durften nicht zu ihren Familien in die Deportationsgebiete zurück und auch nicht außerhalb des Lagers wohnen. Meine Erinnerung an diese Zeit ist erstaunlich deutlich. An vieles erinnere ich mich mit einer Klarheit, die im Allgemeinen für ein Kind in diesem Alter außergewöhnlich ist. Natürlich haben meine Mutter und ich über diese Jahre später oft gesprochen. Vielleicht hat auch das dazu beigetragen, dass mir einiges aus der Lagerzeit so nah und lebendig geblieben ist."

Die im Lager untergebrachten Frauen mussten für einen Sowchos arbeiten. Morgens um sechs Uhr begann der Tag, gleichwohl, ob es Winter oder Sommer war. Tagsüber sah ich meine Mutter nicht. In den Wintermonaten arbeitete sie meistens in einer Kolonne, die das auf der Wolga herbeigeschaffte Holz, nachdem es etwas zerkleinert worden war, zum Weitertransport auf Fuhrwerke und Lastwagen zu verladen hatte. Oft kam es dabei zu schlimmen Unfällen, Hände und Füße wurden gequetscht. Ich sehe noch heute Frauen, die mit schmerzvollen Gesichtern und weinend in die Wohnbaracke kamen, wo ihnen dann notdürftig ein Verband angelegt wurde. Ihr Weinen tat mir weh. Ich zog mich dann meistens in die Ecke des Raumes zurück. Erst später, wenn der Verband fertig war und die Verunglückten etwas zur Ruhe gekommen waren, näherte ich mich vorsichtig und versuchte, ihnen irgendwie mein kindliches Mitgefühl zu zeigen. Ich lehnte mich an sie und suchte ihre körperliche Nähe. Die Arbeit auf den Holzplätzen am Fluss war eigentlich harte Männerarbeit, doch darauf wurde keine Rücksicht genommen. Die Frauen hatten keine Wahl, sie mussten sich damit abplagen. Es war draußen oft schon finster, wenn sie ins Lager zurückkehrten. Im Sommer und im Herbst hatten es die Frauen etwas leichter. Sie mussten hauptsächlich Feldarbeiten verrichten - Kartoffeln, rote Rüben, Kohl und anderes ernten. Und das ganze Jahr über war außerdem das Vieh zu versorgen. Mutter hatte viel mit Pferden zu tun. Manchmal suchte ich sie auf. Vor den großen kräftigen Rappen hatte ich jedoch meistens Angst, besonders, wenn sie laut schnauften oder mit den Hufen scharrten.
 Trudarmistinnen im Arbeitslager von Sysran (1945)

Mutter hatte für mich nur wenig Zeit, lediglich die kurze Zeit vom Arbeitsschluss bis zum Schlafengehen. Ich wollte immer wissen, was sie den Tag über gemacht, ob sie etwas Besonderes gesehen oder erlebt hatte. Manchmal brachte Mutter mir etwas mit. Im Sommer, wenn es sehr heiß war, ein Stück Melone, eine Handvoll Kirschen oder ein paar Pflaumen. Eines Tages kam sie mit einer Apfelsine von der Arbeit zurück. Diese Frucht kannte ich bis dahin nicht, ich hatte sie noch nie gesehen. Zuerst war ich etwas skeptisch. Ich hielt sie in der Hand und verglich sie mit der großen Glühbirne, die an der Decke in unserem winzigen Zimmer hing. Für mich waren es Sonnen, wie die ganz große draußen am Himmel, die da oben an der Decke und die hier in meinen Händen. Groß war meine Freude auch, als mir mein Vater einmal einen Klumpen Kandiszucker mitbrachte. Er war groß, braun und man konnte nur mit der Zange ein Stückchen abbrechen. Kandiszucker war damals etwas sehr Kostbares, es gab ihn nur sehr selten. Als der braune Klumpen dann immer kleiner wurde, brach ich immer kleinere Stücke ab. Ich wollte von meinem Schatz möglichst lange etwas haben.

Tagsüber, wenn Mutter zur Arbeit war, hielt ich mich bei den Frauen auf, die in den Baracken Hausarbeit machten. Sie säuberten die Unterkünfte und kochten das Essen für den Abend. Wir waren wie eine große Familie. Als eines der wenigen Kinder im Lager umsorgten sie mich. Sie steckten mir von ihrem kargen Essen häufig einen guten Bissen zu. Dennoch vergesse ich die wenigen Stunden nicht, die ich allein mit Mama in unserem kleinen Zimmer verbringen konnte. Sie erzählte mir dann von den Großeltern, den Tanten und Onkeln, die irgendwo weit weg lebten. Tante Theresa, Mutters Schwägerin, kannte ich. Sie war auch im Lager und kam häufig zu uns. Doch die anderen waren mir fremd. Sie gehörten zu einer Welt, zu der ich keinen Zugang hatte.

Adele Richter, Loras Mutter, wurde 1916 als dreizehntes Kind der Bauernfamilie Bärlein in einem deutschen Dorf in der Ukraine geboren. Im Mai 1941 heiratete sie Emil Richter. Doch das Paar durfte nicht lange beieinander bleiben. Im September wurde ihr Mann in die Sowjetarmee eingezogen, in ein Pionierbataillon. Adele Richter und andere Frauen wurden in der Nähe ihrer Dörfer zum Bau von Panzergräben eingesetzt. Der Vormarsch der Deutschen erreichte schnell dieses Gebiet. Die meisten Mitglieder der Familie Richter kamen im kriegerischen Durcheinander in das Gebiet, das von der Wehrmacht eingenommen wurde. Der Vater von Adele Richter (die Mutter war schon 1930 verstorben), ihre Geschwister und Adele selbst wurden von der Sowjetarmee ins Hinterland gebracht und von dort aus als Bevölkerungsangehörige deutscher Nationalität nach Ostkasachstan deportiert. Es dauerte einige Monate, bis der Transport dort ankam. Unterwegs wurden sie getrennt und kamen in weit voneinander liegende Gebiete. Erst nach dem Krieg konnte Adele Richter dann mit ihren Geschwistern wieder Kontakt aufnehmen. Der Vater starb unmittelbar nach der Deportation 1941 in Folge der Strapazen und des Hungers.

1942 wurde Adele Richter wie die anderen arbeitsfähigen Angehörigen deutscher Nationalität in die Trudarmee geschickt, nach Sysran an die Wolga ins Gebiet von Kujbyschew. "Diese ersten Jahre dort waren für meine Mutter besonders schlimm. Die schwere Arbeit, das dürftige Essen. Die Erniedrigungen und die Beschimpfungen als Faschisten oder als Faschistenweiber durch die Wachmannschaft", sagt Lora Richter. "Wie konnte man sie für den Krieg verantwortlich machen? Sie hatten doch nichts damit zu tun. - Eine schwere Last für meine Mutter und die anderen Frauen bestand auch darin, dass sie nichts über das Schicksal ihrer Angehörigen erfahren konnten. Meine Mutter wusste nicht, was aus ihrem Mann geworden war. Lebte er noch? Die Situation war trostlos."
die arbeit in der trudarmee, ceichnung von l. richters mutter

1943 erhielt Adele Richter von entfernten Bekannten und auf Umwegen die Nachricht, dass ihr Mann gefallen wäre. (Später in den 50er Jahren erfuhr sie hingegen, dass ihr Mann bei Kriegsende in Berlin gesehen worden war. Er soll in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten und dann Häftling in einem Konzentrationslager in Sachsen-Anhalt gewesen sein. Trotz aller Nachforschungen konnte sein Schicksal nie aufgeklärt werden.) "Mutter glaubt heute noch, dass Emil Richter irgendwo lebt und nur nicht weiß, wo er sie finden soll."

"Als die strenge militärische Bewachung des Arbeitslagers nach dem Krieg aufgehoben wurde", erzählt Lora Richter weiter, "lernte meine Mutter meinen Vater Jakob Goshe kennen. Er hatte kurz zuvor seine Frau verloren. In dem Haus, in dem sie mit ihren beiden Söhnen wohnte, war ein Feuer ausgebrochen. Bei der Rettung der Kinder zog sich die Frau schwere Brandverletzungen zu. An ihren Folgen starb sie. Ich habe meine Halbbrüder nie kennengelernt. Auch später, als ich erwachsen war, gelang es mir nicht, sie ausfindig zu machen. - An Vater habe ich nur einige wenige, dafür aber ganz klare Erinnerungen. Ich weiß, er besuchte mich manchmal in dem kleinen Zimmer, das Mutter und ich im Lager bewohnten. Sehr deutlich habe ich die Bilder vor mir, als wir von Sysran in den Ural abreisten. Ich hatte einen kleinen Koffer aus dünnem Holz. Darauf legte ich, schon müde geworden, meinen Kopf, als wir auf dem Bahnhof warteten. Plötzlich weckte mich mein Vater und hob mich hoch. Wir mussten in den Zug einsteigen. In Vaters Augen standen Tränen. Ich hatte noch nie bei ihm oder anderen Männern Tränen gesehen. Er drückte mich fest, ganz fest an sich. Dann stand er draußen auf dem Bahnsteig und winkte uns bei der Ausfahrt des Zuges zu. Er wurde immer kleiner, je mehr sich der Zug entfernte. Ich sollte ihn niemals wiedersehen. Kurz nach unserer Ankunft in Sibirien erhielten wir einen Brief. Darin wurde uns Vaters plötzlicher Tod durch Herzinfarkt mitgeteilt."

Adele Richter und ihre Tochter gingen 1952 nach Aufhebung der Arbeitsbindung in Sysran in den Ural, ins Gebiet von Swerdlowsk. Dort lebten Familienangehörige meiner Mutter. "Unsere Leidenszeit war damit noch nicht beendet. Nur für kurze Zeit nahmen die Dinge einen guten Lauf. Mutter bekam Arbeit in einem Kindergarten. Sie kochte und nähte für die Kinder. Alle waren des Lobes voll über ihre Arbeit. Ich war nicht mehr allein und fühlte mich unter den anderen Kindern wohl. Der Kindergarten war einer der besten im ganzen Gebiet. Es sprach sich herum. Eines Tages kam der Vorsitzende des zentralen Dorfsowjets zur Besichtigung. Als er meiner Mutter begegnete und erfuhr, dass sie eine Deutsche sei, kam es bei ihm zu einem fürchterlichen Wutausbruch. "Was, sie ist Deutsche? Wer hat es erlaubt, dass diese Person sich mit unseren Kindern abgibt? Raus mit dieser Faschistin, weg mit diesem deutschen Balg!" Mutter musste augenblicklich den Kindergarten verlassen und fortan in der Taiga beim Holzeinschlag arbeiten. Das Haus, in dem wir wohnten, war das letzte im Dorf, klein und alt, an vielen Stellen nur notdürftig repariert. Tagsüber war ich allein. Ich erinnere mich noch sehr gut, wie ich oft Stunde um Stunde auf Mama gewartet habe. Der Ofen wurde im Laufe des Tages immer kälter. Die Hände über der Brust gekreuzt schaute ich auf die Tür. Ich fror so sehr."

Wirklich besser wurde es für die beiden erst, als sie 1955 in die Stadt Woltschansk, die ebenfalls im Swerdlowsker Gebiet liegt, übersiedelten. Adele Richter arbeitete nun in einer Einrichtung, die tagsüber als Kantine und abends als Restaurant diente. Ihre gute Arbeit und ihr unermüdlicher Einsatz wurde von den Kollegen geschätzt. Lora besuchte die Schule. Sie gehörte immer zu den besten Schülern der Klasse. Besonders fühlte sie sich zur Musik, zum Tanz und zu Gedichten hingezogen.
Rehabilitierungsbescheinigung von 1990 für die Zeit der Sonderkommandantur des MDI der Sowjetunion, der L. Richter als Kind unterworfen war

Sie gehörte viele Jahre lang einer Volkstanzgruppe an. "Ich weiß nicht warum, aber wenn Musik erklang, zuckte es in mir. Ich konnte nicht anders, ich musste dazu tanzen", gesteht Lora Richter. "Mein heißer Wunsch war es damals, das Klavierspielen zu erlernen. Doch Mama konnte sich kein Klavier leisten. Das stimmte mich lange Zeit sehr traurig. Doch auch die Worte der Dichter übten auf mich eine fast magische Anziehungskraft aus. In der Welt der Musik, des Tanzes und der Poesie fand ich all das, das Gute und Schöne, was ich in der Kindheit nicht hatte. Sie haben mich für vieles, was ich damals entbehren musste, entschädigt."

Ab 1957 bis 1995 lebte Lora mit ihrer Mutter in verschiedenen Orten im Norden Kasachstans. Dort lernte sie die Überlebenden der weitverzweigten Familien Richter und Bärlein kennen. "Ich habe erfahren, wie wichtig der Zusammenhalt in und zwischen den Familien ist. Wir kamen oft zusammen. Es wurde immer viel über die Vergangenheit der Großeltern und Urgroßeltern in der Ukraine und auf der Krim erzählt. Wir machten Musik und sangen deutsche und russische Lieder. Ich lernte unsere deutschen Wurzeln kennen, vieles von der deutschen Tradition und den Bräuchen, die in unseren Familien fortgeführt wurden. Und ich begriff auch, woher meine Mutter die Kraft genommen hatte, um die düsteren Jahre des Krieges und der Nachkriegszeit zu überleben. Auch in der Einsamkeit der Deportation und des Lagers schwand wohl bei ihr nie das Bewusstsein, einer Gemeinschaft anzugehören, die man zwar zerreißen, aber nicht völlig auslöschen konnte."

Nach Beendigung der Schule arbeitete Lora Richter zunächst als Laborantin. Sie wurde nicht in den Komsomol aufgenommen. "Ich sei dazu nicht würdig, sagte man mir." Sie hatte es deshalb schwer, später ein Hochschulstudium zu absolvieren. Schließlich gelang es ihr trotz großer Widerstände doch. Sie absolvierte ein Fernstudium. Sie wurde Lehrerin für Russisch und Literatur. Nach dem Studium arbeitete sie in Zelinograd als Sekretärin für Organisation in der Gesellschaft "Znanie" und danach als Oberassistentin an der Hochschule für Landwirtschaft. Bis zu ihrer Übersiedlung nach Deutschland im November 1995 war sie zwei Jahre lang Direktorin des Deutschen Gebietszentrums.
Die Zubereitung von Pelmeni für eine Veranstaltung von Umsiedlern in der Ev. Kirche Berlin-Marzahn/Nord

Die Übersiedlung nach Deutschland war für Lora Richter und ihre Familie kein leichter Schritt. In einem ihrer Gedichte, das sie 1995 geschrieben hat und das den Titel "Ich reise aus" trägt, heißt es:

"Nun gehe ich! Ich gehe nun. Ich gehe ...
Die Lippen flüstern Abschiedsworte nun.
Ich gehe weg, verlasse und den Orten meinen Rücken kehre,
die mir auf Zeit gegeben wurden durch des Schicksals Tun.
Das Klopflied von den fernen Zügen
trägt stets die Stille meiner Nächte fort.
Die Tränen fangen an die Kehle zuzuschnüren,
ich bete nur ,Lös' meinen Zwiespalt, Gott!'

Schon kommen Tag und Bitternis der Trennung,
das Karussell der Zweifel dreht sich ohne Halt und wild.
Das ganze Leben wie im Wartesaal verlebt ...
Kommt nun die Wendung?
Was werden wir vermissen?
Was kommt?
Wie uns're Zukunft wird?"
(Übertragen aus dem Russischen von Elena Marburg)

In der neuen Heimat Deutschland sind die Richters - Lora, ihr Mann und der erwachsene Sohn, beide Ärzte, dabei, fest Fuß zu fassen.
Lora Richter arbeitet als Pädagogin in einer sozialen Einrichtung. Sie hilft mit, dass Kinder und Jugendliche unterschiedlicher Herkunft in Berlin lernen, ohne Vorbehalte und Ressentiments miteinander zu leben.

"Besonders froh bin ich jedoch", betont sie, "dass meine Mama bei uns ist und ich sie jetzt im Alter, wo ihr schon vieles recht schwerfällt, bei mir habe und sie umsorgen kann. Ihre Güte, ihre Heiterkeit, ihr Fleiß und ihre Hingabe, ihr nie ermüdendes Dasein für andere Menschen - all das war und ist für mich Vorbild. Mama ist eine außergewöhnliche Frau. Sie ist an ihrem Schicksal nicht zerbrochen. Und es ist für mich ein großes Glück, ihr auch im hohen Alter etwas von dem zurückzugeben, was ich in all den Jahren von ihr empfangen habe."
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