Geschichte der Russlanddeutschen

8 Kulturarchiv

8.2.5 Schicksalswege — Erinnerungen

8.2.5.3.17 Oleg Hoffmann

Im Mai 1994 bin ich nach Berlin übergesiedelt. Es war vor allem meine Mutter, die drängte, aus Sibirien wegzugehen. Sie arbeitete in Angarsk als Deutschlehrerin, organisierte für Russlanddeutsche Sprachkurse und half vielen beim Beschaffen und Ausfüllen der Dokumente, die für eine Aussiedlung erforderlich waren. Zuerst hatte sie nicht wie andere die Absicht, selbst nach Deutschland überzusiedeln. Doch als der Strom der Aussiedler immer größer wurde, ließ sich auch Mutter von diesem Fieber anstecken.

Ich hatte, als sie den Antrag stellte, keine rechte Meinung. Mutter und folglich auch ich, wir sind zwar deutscher Nationalität, doch dies spielte zumindest für mich bis dahin keine Rolle. Wir lebten wie die anderen, die Russen. Russische Kultur bestimmte mein Fühlen und Denken. Angarsk war mein Zuhause. Dort lebten meine zahlreichen Freunde. Zu Deutschland hatte ich kein besonderes Verhältnis. Es war ein Land unter anderen in Westeuropa. Ich wusste über Deutschland nicht mehr als über Frankreich oder Großbritannien. In den Sommerferien weilte ich als Kind manchmal in dem Dorf der Großeltern im Gebiet von Omsk. Diese sprachen, wenn sie allein waren, miteinander Deutsch. Obwohl ich in der Schule Deutsch als Fremdsprache lernte, beherrschte ich nur wenige Worte. Sprechen oder gar unterhalten konnte ich mich in dieser Sprache nicht. Andere hatten Englisch in der Schule, ich Deutsch. Mein Interesse war mäßig. Mit den Großeltern unterhielten wir uns immer Russisch.

Als Mutter 1992 den Antrag zur Übersiedlung stellte, stand ich mitten im Studium an der Technischen Fachschule in Angarsk. Ursprünglich wollte ich Pilot werden. Ich habe es zweimal versucht. Das erste Mal 1988, gleich nach Beendigung der 10. Klasse. Meine Gesundheit spielte nicht mit, so dass ich gar nicht erst bis in die Aufnahmeprüfungen kam. Darauf entschloss ich mich, in Irkutsk ein Studium für Automatisierungstechnik zu beginnen. Ich stellte jedoch bald fest, dass das nicht das Richtige für mich war. Nach einem halben Jahr brach ich das Studium ab und unternahm einen zweiten Versuch, Pilot zu werden. Wieder hatte ich kein Glück. Diesmal scheiterte es daran, dass erst gar keine Bewerber angenommen wurden. Es gab inzwischen zu viele Piloten in der Sowjetunion. Ich kehrte in die Fachhochschule zurück, nicht nach Irkutsk, sondern wählte Industrieelektronik als neue Fachrichtung am Technikum in Angarsk, meiner Geburtsstadt.
Freunde verabschieden Oleg Hoffmann in Angarsk (1994)

Erst konnte oder wollte ich nicht so recht glauben, dass Mutters Antrag zur Übersiedlung genehmigt werden würde. Ich ließ die Sache einfach auf mich zukommen, ohne mich irgendwie festzulegen. Als dann im Januar 1994 der positive Bescheid von der deutschen Botschaft eintraf, ließ ich mich von Mutter überreden, erst einmal mit ihr zu gehen. Meine Schwester war mit ihrem Mann schon vor uns ausgereist. Drei Motive gaben für mich den Ausschlag. Deutschland kennen zu lernen, ein Land in der so genannten westlichen Welt, erschien mir eine interessante und nützliche Lebenserfahrung zu sein. Vielleicht könnte ich dort, sagte ich mir, mein Studium beenden oder etwas anderes studieren. Und ich wollte schließlich auch etwas Geld verdienen. Dazu waren die Möglichkeiten im Westen ungleich größer als in Angarsk. Wie lange ich in Deutschland bleiben oder ob es für mich nur ein "Durchgangsstadium" sein und ich nach kurzer Zeit wieder nach Russland zurückkehren oder woanders hingehen würde, das wusste ich nicht. Ich hatte, wie gesagt, keine genaue Vorstellung.

In Berlin war für mich das Wichtigste, möglichst schnell Deutsch zu lernen. Ich war mir von Anfang an klar darüber, dass gute Sprachkenntnisse der Schlüssel dafür sind, mich mit der fremden Wirklichkeit vertraut zu machen. Von Oktober 1994 bis März 1995 besuchte ich einen Kurs in der Otto-Benecke-Stiftung. Da habe ich viel gelernt. Wir wurden in Leistungsgruppen eingeteilt. Im Unterricht wurden moderne Methoden der Sprachvermittlung eingesetzt. Nach Beendigung des Kurses glaubte ich, schon ziemlich gut Deutsch zu können. Doch in der Praxis zeigte sich bald, dass ein sechsmonatiger Kurs, auch wenn er gut ist, dafür nicht ausreicht. Mein Wortschatz war für den Alltag und für das Studium noch zu klein. Auch mit der Aussprache haperte es. Oft wurde ich nicht verstanden, andere mussten nachfragen. Mir blieb nichts anderes übrig, als selbst weiter an der Sprache zu arbeiten. Dort, wo ich das nicht konnte, bei der Verbesserung der Aussprache, habe ich weiteren Unterricht nehmen müssen. Rückblickend kann ich sagen: Die große Mühe und die zusätzlichen Kosten, die ich aufwandte, haben sich gelohnt. Wie mir die Leute hier immer wieder bestätigen, spreche ich mittlerweile ein sehr ordentliches Deutsch. Man merkt zwar, dass Deutsch nicht meine Muttersprache ist, doch den typisch russischen Akzent konnte ich ablegen.

In Deutschland bekam ich aufgrund des 10-Klassen-Abschlusses und des begonnenen Fachschulstudiums ein Fachabitur zuerkannt. Das berechtigte mich, Informatik oder Bauingenieurswesen zu studieren. Ich entschied mich zunächst für Informatik an der Technischen Universität in Berlin. Leider hatte ich dabei keinen Erfolg. Dafür gab es vor allem zwei Gründe: Ich konnte kein Englisch. Eine Vielzahl der Pflichtliteratur gab es nur in englischer Sprache. Mir war es nicht möglich, nebenher noch Englisch zu lernen. Hinzu kam noch, dass ich mit der Art und Weise, wie an deutschen Hochschulen gelehrt wird, nicht zurechtkam. Durch die Fachschule in Angarsk war ich an die noch stark von der Schule geprägten Lehrmethoden gewöhnt. An der TU hält der Dozent seine Vorlesung vor einem großen Auditorium. Dann gibt es ein paar Übungen und ein Seminar. Den Rest musste ich mir selbst erarbeiten. Der Umstand, dass ich in der deutschen Sprache damals noch nicht sattelfest war, verstärkte meine Schwierigkeiten.

Nach dem fehlgeschlagenen Wintersemester wechselte ich im Frühjahr zum Bauingenieurswesen über. Dort kam ich besser zurecht. Ich verbesserte mich sprachlich und gewöhnte mich an den Studienbetrieb in Deutschland. Kommilitonen unterstützten mich. Studenten, gleich welcher Herkunft, kennen keine Kontaktschwierigkeiten. Innerhalb kurzer Zeit hatte ich einen großen Freundes- und Bekanntenkreis. Das half mir sehr, das Leben in Deutschland schnell kennen zu lernen und in Berlin heimisch zu werden. Hinzu kam noch etwas anderes: Unbekanntes und Fremdes habe ich nie als Hindernis, sondern immer als reizvolle Aufgabe angesehen, mich damit zu befassen. Darin unterscheide ich mich wohl wie die meisten jungen Leute von älteren, die sich da oft schwerer tun.

Positiv hat sich für das Einleben hier ausgewirkt, dass ich während des Semesters und in den Semesterferien gearbeitet habe. Zum einen brauchte ich das Geld und zum anderen erhielt ich einen Einblick in die Arbeitswelt. Ich arbeitete auf Baustellen, im Behindertenservice auf dem Flughafen und stand mal für einige Wochen am Fließband einer großen Buchbinderei. Während einer Schicht nur einmal zehn Minuten zum Austreten, 30 Minuten Mittagspause und in acht Stunden keine Möglichkeit der Kommunikation mit Arbeitskollegen zu haben - das war für mich etwas vollkommen Neues. Das konnte ich mir bis dahin nicht vorstellen.

Obwohl ich mich in Berlin immer heimischer fühlte, wurde mir während des Studiums allmählich deutlich, dass Bauingenieurswesen meinen Berufsvorstellungen nicht entsprach. Ich konnte nicht mehr die notwendige Motivation für dieses Fach aufbringen. Eine Sache lustlos zu machen, ist nicht mein Ding. Was sollte ich tun?

Im Mai 1999 befand ich mich zum zweiten Mal nach meinem Weggang 1994 für drei Wochen in Angarsk. (Im Frühjahr 1996 weilte ich für kurze Zeit zum ersten Mal dort zu Besuch.) Meine Verbindung mit meinen Freunden und Bekannten in Sibirien riss während dieser Jahre nicht ab. Im Gegenteil, wir haben uns per Post und E-Mail regelmäßig ausgetauscht. Angarsk und meine Freunde - das ist mir immer genauso wichtig wie mein "deutsches" Zuhause in Berlin. Dazu gehört auch, dort des Öfteren eine Zeit lang zu sein. Während meines Aufenthaltes im Mai 1999 erfuhr ich mehr zufällig, dass es für mich in Angarsk noch die Möglichkeit gab, das 1994 abgebrochene Studium der Industrieelektronik zu beenden.
Silvesterfeier mit Teilnehmern des Deutschkurses in Berlin (1994/95)

Das und mein Verlangen, in meiner "russischen Heimat" doch etwas länger zu bleiben, bewirkten schließlich, dass ich von dieser Gelegenheit Gebrauch machte. Ich kehrte kurz nach Berlin zurück, um dort die Sache mit dem Abbruch des Studiums zu regeln. Danach brachte ich von September 1999 bis Juli 2000 in Angarsk das Studium zu Ende. Hier in Deutschland wird dieser Studienabschluss als Ingenieur für Elektrotechnik an einer Fachschule anerkannt.

Nach den Jahren des Wegseins war es für mich angenehm, wieder für längere Zeit mit meinen alten Kumpeln und Freunden zusammen zu sein. Doch bei aller Vertrautheit bemerkte ich auch, dass ich mich veränderte hatte. Manches, was ich früher als völlig normal angesehen und nicht hinterfragt hatte, erschien mir nun in einem anderen Licht. Mir wurde bewusst, dass Russen und Deutsche doch sehr unterschiedliche Sicht- und Verhaltensweisen haben. Besonders deutlich empfand ich das in solchen Dingen wie Ordnung und Disziplin. Dass vieles in Angarsk in dieser Hinsicht zu wünschen übrig lässt, hat nicht nur mit den Wirren der gesellschaftlichen Wende in den 90er Jahren und den daraus resultierenden wirtschaftlichen und sozialen Problemen zu tun. Für Russen sind andere Dinge wichtiger, so u. a. ihre Offenheit und Herzlichkeit untereinander. Jede Nationalität hat ihre starken und weniger starken Seiten - das wurde mir nun durch eigenes Erleben bewusst.

Mir fiel auch der Unterschied zwischen den jungen Leuten in beiden Ländern auf. Die meisten meiner Altersgenossen in Angarsk sind inzwischen verheiratet und haben Familie. Sie haben wenig Freizeit. Um finanziell einigermaßen über die Runden zu kommen, sind sie gezwungen, sich einen Zweit- oder Drittjob zu suchen. Trotzdem können sie sich im Vergleich mit hier nicht viel leisten. Um so erstaunlicher war es für mich, dass sie das wenige Geld oft für überteuerte Markenartikel ausgeben. Sicherlich spielt ein solches Verhalten auch bei jungen Leute hier in Deutschland eine große Rolle. Doch der Unterschied besteht darin, dass sich das die meisten in Deutschland auch leisten können. In Russland ist der Kauf dieser Artikel für viele nur möglich, wenn sie sich beim Konsum anderer lebenswichtiger Dinge sehr einschränken. Das Streben nach bestimmten materiellen Dingen und allgemein nach Äußerlichkeiten ist sehr stark. Warum erregte das früher bei mir keinen Anstoß?

Meine Freunde sagen: "Oleg, du sieht uns hier schon mit anderen, mit deutschen Augen." Ja, da ist schon was dran. Ich spüre trotz aller Nähe zu meiner "russischen Heimat" doch, wie langsam eine Distanz zu ihr aufkommt. Ich bin nicht mehr derjenige, der vor sieben Jahre nach Deutschland gegangen ist. Und das ist nicht nur so, weil ich älter geworden und gereift bin. Nein, auch Deutschland hat mich schon in vielem geprägt. Jetzt nach meiner Rückkehr nach Berlin spüre ich allerdings auch hier zuweilen eine gewisse Fremdheit oder ich habe, besser gesagt, das Empfinden, nicht völlig dazuzugehören. Äußerlich gibt es keine Probleme. Über die Hälfte meiner Freunde und Bekannten, mit denen ich Umgang pflege, sind Einheimische. Wir kommen gut miteinander aus.
abfluss der angara aus dem baikalsee

Wir gehen oft gemeinsam ins Fitnessstudio und in Jazzklubs oder sitzen in Spielrunden beieinander, bei Monopoly oder Risiko. Wir reden über Gott und die Welt, auch Fragen der Tagespolitik werden nicht ausgeklammert. Doch es kommt vor, dass es des öfteren Augenblicke gibt, an denen ich mich nicht dazugehörig fühle. Es wird z. B. in der Runde über etwas herzlich gelacht. Und ich bin der einzige, der nicht weiß, weshalb sie sich so amüsieren. Woran liegt das? Erst nach und nach bin ich dahinter gekommen. Das zwangslose Gespräch im Alltag lebt in großem Maß von Andeutungen und Anspielungen. Die Gesprächspartner, die in der gleichen Gesellschaft und Kultur aufgewachsen sind, haben einen gemeinsamen und ähnlichen Wissens- und Erfahrungshintergrund. Viele Dinge brauchen nicht ausgesprochen werden, man versteht sich aufgrund von Andeutungen. Mir, der in Russland groß geworden ist, bleibt da vieles verschlossen. Ich glaube, dass sich solche Dinge nur sehr langsam über viele Jahre hin abbauen, erst in dem Maße, wie ich als "Hinzugekommener" hier eine längere Zeit meines Lebens verbracht habe. Ich leide nicht unter diesem Anderssein. Doch das Problem ist da.

Wenn mich meine Freunde in Berlin fragen, als was ich mich sehe, dann sage ich immer: Ich bin Russe. Doch ich bin zugleich auch Deutscher. Zwei Gesellschaften und Kulturen widerspiegeln sich in meinem Denken und Fühlen. Bislang dominiert allerdings die russische Seite.

Während des mehr als einjährigen Aufenthaltes in Angarsk habe ich versucht, in Sibirien Arbeit zu bekommen. Besonders interessierte ich mich für Jobs in Firmen, die mit deutschen Gesellschaften zusammenarbeiten. Es hat jedoch nicht geklappt. Deshalb bin ich nach Berlin zurückgekehrt und arbeite jetzt in einer Firma, in der ich schon während des Studiums zeitweilig beschäftigt war. Dort werden u. a. im Auftrag von Baugesellschaften Wohnungen, Garagen und Grünanlagen vermessen. Zu meiner Aufgabe gehört es, die Daten anschließend am Computer zu digitalisieren.

Konkrete Pläne für die Zukunft habe ich nicht. Noch sind bei mir viele Dinge offen. Ich suche eine Arbeit, in die ich mehr Kreativität einbringen kann. Meine Freundin lebt in Angarsk. Wird sie zu mir kommen? Oder werde ich zu ihr gehen? Für mich ist nicht entscheidend, ob ich hier in Deutschland oder in Russland lebe. Ich kann mir auch vorstellen, in ein drittes Land zu gehen. Wichtiger erscheint mir, eine Arbeit zu haben, in der ich mich beweisen kann, die einigermaßen gut bezahlt wird und bei der ich mich menschlich nicht allzu sehr verbiegen muss. Und neben Arbeit liegen mir in erster Linie die Familie und gute Freunde am Herzen.
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