Geschichte der Russlanddeutschen

8 Kulturarchiv

8.2.5 Schicksalswege — Erinnerungen

8.2.5.3.9 Olga Linker

Olga Linker wurde am 24. Juni 1970 in Pawlodar im Norden Kasachstans geboren. Ihre Kindheit und Jugend verbrachte sie im Dorf Trofimowka und in der Stadt Issyk unweit von Alma Ata. Sie hat zwei jüngere Schwestern.

Ihr Vater arbeitete als Dreher und Zerspaner in verschiedenen Firmen. Ihre Mutter unterrichtete einige Jahre Deutsch in einer Landschule und leitete danach ein Dienstleistungszentrum, das Badeanstalten, Saunas und Wäschereien verwaltete. Zuletzt war sie in Issyk als Buchhalterin tätig.

Nach Beendigung der 8. Klasse wurde Olga Linker an einer pädagogischen Fachschule zur Sportlehrerin ausgebildet. Ab 1988 arbeitete sie in einer Schule der Neubausiedlung Molodjoschnyj in der Nähe von Ust-Kamenogorsk.

1989 heiratete sie Viktor Linker. Im gleichen Jahre wurde ihre Tochter Marina und 1993 ihr Sohn David geboren.

Seit September 1992 lebt Olga mit ihrer Familie, den Eltern und ihren Schwestern in Berlin.

Der Entschluss, nach Deutschland überzusiedeln, ist in unserer Familie langsam gereift. Verwandte von Vaters Seite her waren schon in den 70er und 80er Jahren in die Bundesrepublik gegangen. Obwohl diese in ihren Briefen und bei Besuchen nur Gutes vom Leben in Deutschland berichteten, sahen meine Eltern zunächst keinen Grund, Kasachstan zu verlassen. Sie hatten ihre Arbeit, ihr Auskommen und lebten in der dortigen multinationalen Gesellschaft ohne Schwierigkeiten. Die schweren Kriegs- und Nachkriegsjahre mit der Deportation, mit der Trudarmee und mit dem Regime der Kommandantur waren nicht vergessen. Meine Eltern sprachen noch oft darüber, was die Großeltern und sie, die nach Kriegsende geboren wurden, erlebt hatten. Doch im Laufe der Jahrzehnte hatte die Benachteiligung der Russlanddeutschen aufgehört. Meine Eltern leisteten an wichtiger Stelle gute Arbeit. Das fand auch in der Gesellschaft und von staatlicher Seite her Anerkennung. Ich selbst habe mich nie in Kasachstan fremd gefühlt. Wir sprachen Russisch, waren deutscher Nationalität und hatten von unseren Vorfahren bestimmte Sitten übernommen. Darin lag für mich nichts Besonderes und daraus ergaben sich für mich keine Probleme.

Die Situation änderte sich mit dem Zerfall der Sowjetunion und mit der staatlichen Selbstständigkeit Kasachstans. Die Kasachen hatten ein neues Selbstbewusstsein gewonnen und versuchten deutlich zu machen, dass sie nun die alleinigen Herren des Landes waren. Kasachisch wurde zur Sprache der staatlichen Verwaltung.

Auch in Betrieben wurde das Russische mehr und mehr zurückgedrängt. Die russischsprachige Bevölkerung wurde angehalten, Kasachisch zu lernen. Es gab keine offenen Anfeindungen oder Benachteiligungen. Nein, das nicht, doch unterschwellig waren Tendenzen zu spüren, dass wir nur noch als "Gäste" und nicht als völlig gleichberechtigte Staatsbürger von kasachischer Seite her betrachtet wurden. Das führte bei uns zu Verunsicherungen. Hinzu kamen die mit der Umwälzung zunehmenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme. Es stellte sich die Frage: Wo wird das alles hinführen? Welche Zukunft haben wir?
der vater von o. linker bei der arbeit in der schmiede
All das und auch das Schicksal der Russlanddeutschen in der Vergangenheit vor Augen kam Vater zu der Meinung, dass es auch für uns alle in der Familie am besten sei, in Deutschland ein neues Leben anzufangen. Und sicherlich beeinflusste ihn auch der Umstand, dass damals die Zahl der Deutschstämmigen um uns herum, die dem Land den Rücken kehrten, immer größer wurde.

Als Vater mir die Absicht zur Übersiedlung mitteilte, war ich damit sofort einverstanden. In Deutschland hatten wir eine bessere Perspektive - da gab es für mich keinen Zweifel. Schwieriger war es, meinen Mann zu überzeugen. Er arbeitete als Kraftfahrer. Sein Vater ist deutscher Nationalität und seine Mutter Russin. Schwiegermutter wollte Kasachstan nicht verlassen und sie wollte auch nicht, dass ihre Familie durch den Weggang ihres Sohnes "zerrissen" würde.

Letztlich habe ich mich bzw. haben wir uns, mein Mann und ich, gegen sie durchgesetzt. Meine damaligen Vorstellungen über Deutschland waren verschwommen und - das muss ich heute rückblickend bekennen - ziemlich unrealistisch. Bedenken hatte ich keine, Probleme hinsichtlich der Arbeit und des Einlebens in der Bundesrepublik sah ich nicht. Die bereits in Deutschland lebenden Verwandten hatten stets nur Gutes erzählt. Über Arbeitslosigkeit und Vorbehalte gegenüber Übersiedlern hatten sie nicht gesprochen. Bei mir überwogen die Neugier auf das Unbekannte und der Reiz, ein neues, fremdes Land kennenzulernen. Die praktischen Dinge, die für die Ausreise zu erledigen waren, beanspruchten meine ganze Aufmerksamkeit. Ich war mir nicht bewusst, dass sich in meinem bzw. in unserem Leben mit der Übersiedlung ein tiefer Einschnitt vollzog.

In Berlin holte mich die Wirklichkeit dann bald ein, nicht mit einem Mal, sondern nach und nach. Zuerst trat mir die Sprachbarriere mit all den sich daraus ergebenden Schwierigkeiten gegenüber. Ich hatte Deutsch als Fremdsprache in der Schule gelernt und hatte mich dann, als unser Entschluss zur Übersiedlung feststand, bemüht, meine Sprachkenntnisse aufzufrischen und zu vertiefen. Doch damit konnte ich hier nur wenig anfangen.
o. linker mit ehemann und kindern in berlin

Ich setzte darauf, dass der Deutschkurs, den ich und mein Mann von Januar bis Juli 1993 besuchten, die Sprachschwierigkeiten beseitigen oder wenigsten deutlich mildern würde. Ich habe da viel gelernt. Doch auch nach Absolvierung des Kurses hatte ich noch immer große Probleme, mich verständlich zu machen. Mein schlechtes Deutsch verunsicherte mich. Ich hatte Hemmungen mit Leuten in Kontakt zu treten und mit ihnen Deutsch zu sprechen. Ich zog mich zurück, vor allem in den Kreis meiner Familie. Kontakte hatte ich fast ausschließlich nur mit Russlanddeutschen. Und das wiederum förderte in keiner Weise meine Deutschkenntnisse. Ich fühlte mich isoliert vom allgemeinen Leben. Besonders deutlich wurde mir das, als die Babyjahre zu Ende gingen und sich mir die Frage stellte, wie es beruflich mit mir weitergehen sollte. Ich wollte wieder berufstätig sein.

Das gehört zu meinem Selbstverständnis. Und außerdem musste ich zum Familienunterhalt beitragen. Mein Mann war noch in der Umschulung. Seine Arbeit in einer Firma für Sanitär- und Heizungsinstallation war noch nicht sicher.

Zum Sprachproblem kam nun die Schwierigkeit, eine Arbeit zu finden. Ich sah keine Möglichkeit, wieder in meinem Beruf zu arbeiten. Was sollte ich tun? Vom Arbeitsamt aus war eine Umschulung als Physiotherapeutin möglich. Als Sportlehrerin gab es da für mich Berührungspunkte. Doch es bestand auch Aussicht, im sozialen und kulturelles Begegnungszentrum des Wohngebietes im sportlichen Bereich für Mädchen Arbeit zu finden. Es war nur eine ABM-Stelle, zeitlich befristet, mit offener Zukunft. Nach längerem Hin und Her habe ich mich dazu entschlossen, mich für die Stelle im Begegnungszentrum zu bewerben. Ich weiß noch sehr genau, wie ich dort zum Vorstellungsgespräch kam.

Ich war völlig verunsichert und brachte kaum ein Wort heraus. Und meine Sprache war aufgrund der Aufregung und meines mangelnden Selbstbewusstseins so holperig, als hätte ich erst einige Tage zuvor Deutsch gelernt. Ich fühlte mich höchst unglücklich. Doch aus heutiger Sicht kann ich sagen, es war für mich eine Glücksstunde. Ich traf zukünftige Kolleginnen, die mir ohne Vorurteil entgegentraten und mich so aufnahmen, wie ich damals war. Sie gaben mir die Chance zu beweisen, was ich beruflich kann. Sie stellten hohe Anforderungen und vergaßen dabei auch nicht, mir beim Lernen neuer Dinge behilflich zu sein. Dafür bin ich ihnen sehr dankbar. Es begann für mich in diesem Zentrum eine wunderbare Zeit, eine Zeit, in der ich ein ziemliches Stück auf dem Weg zur Integration in die hiesige Gesellschaft gehen konnte.
Im Arbeitskreis -Plastisches Gestalten- im interkulturellen Projekt -Meridian- in Berlin-Marzahn (2000)

Mittlerweile arbeite ich seit dreieinhalb Jahren mit kleinen Unterbrechungen im Begegnungszentrum. Ich bin jetzt seit längerem mitverantwortlich für den Bereich, der für russlanddeutsche Übersiedler zuständig ist. Diese Arbeit macht mir sehr viel Freude. Meine Kolleginnen sagen mir manchmal, dass ich heute eine ganz andere bin als zu Beginn meiner Arbeit. Ich sei viel selbstbewusster, man spüre abgesehen vom Akzent in meinem Deutsch kaum noch den Unterschied zu den Einheimischen. Das ist vielleicht etwas übertrieben. Doch es stimmt, ich habe fast alle Fremdheit abgelegt.

Ich habe gute Kontakte zu Kollegen und zu vielen Einheimischen im Wohngebiet. Wir reden über alles oder über fast alles miteinander. Wir besuchen uns gegenseitig. Ich spüre, meine Arbeit wird gebraucht und ich werde geachtet, von den Russlanddeutschen und von den Einheimischen gleichermaßen. Das stärkt mein Selbstbewusstsein. Als Fazit kann ich sagen: Vor allem die Arbeit im Begegnungszentrum hat dazu beigetragen, dass ich hier in Berlin ein neues Zuhause gefunden habe.

Ich habe kein Problem damit, wenn man mich heute noch als Russlanddeutsche bezeichnet. Zu meinen russischen Wurzeln stehe ich. Ich bin in Kasachstan aufgewachsen und habe dort 22 Jahre meines Lebens verbracht. Russisch ist meine Muttersprache. Die russische Kultur hat mich geprägt. Ich denke oft an meine Freundinnen, die noch in Kasachstan leben. Mit einigen stehe ich im Briefwechsel. In den Zusammenkünften unter Russlanddeutschen reden wir hier über unser früheres Zuhause und tauschen Erinnerungen aus. Auf all das möchte ich nicht verzichten.

Gleichzeitig bin ich jetzt deutsche Staatsbürgerin. Ich wohne in Berlin und lebe in deutschen Verhältnissen. In meiner Familie herrscht eine Mischkultur. Ich lege großen Wert darauf, dass unsere Kinder auch ordentlich Russisch lernen und viel von der russischen Kultur mitbekommen. Natürlich wird bei ihnen der deutsche Einfluss viel stärker sein und das Russische später nur eine Wurzel unter anderen in ihrem Leben sein. Zwei Kulturen zu kennen und sich in ihnen heimisch zu fühlen, darin sehe ich für mich persönlich und für meine Familie eine Bereicherung. Zum Problem würde es aus meiner Sicht nur dann werden, wenn die eine Seite sich auf Kosten der anderen behaupten wollte.
Sommerfest im interkulturellen Projekt -Meridian- in Berlin-Marzahn (2000)

Ende des Jahres läuft meine Arbeitsstelle im Begegnungszentrum aus. Seit einem Jahr mache ich ein Fernstudium als Sozialberaterin für Aussiedler und Emigranten. Das ist eine neue Ausbildungsrichtung. Ich möchte auf diesem Gebiet weiterarbeiten und meine Erfahrungen weitergeben. Ich weiß, dass die Stellen aufgrund der fehlenden Gelder rar sind. Dennoch bin ich zuversichtlich, dass ich später eine feste Anstellung finden werde. Bis dahin werde ich weiter im Begegnungszentrum ehrenamtlich tätig sein. Wieder nur zu Hause zu sitzen und sei es auch nur zeitweise, das ist für mich nicht der richtige Weg.

Olga Linker im Gespräch:

Das soziale und kulturelle Begegnungszentrum ist über das Wohngebiet hinaus bekannt. Es hat einen guten Ruf. Wer kommt zu Ihnen und was finden die Besucher im Zentrum?

Das Zentrum ist ein Ort der Begegnung von Einheimischen und Dazugekommenen. Die Dazugekommenen sind Russlanddeutsche, aber auch Emigranten aus verschiedenen Ländern. Auf dem Programm stehen Veranstaltungen für Kinder und Jugendliche. Und wir haben eine Vielzahl von multikulturellen Aktivitäten für Erwachsene. Unser Ziel ist es dabei, in konkreter Weise einen Beitrag zur gesellschaftlichen Integration der Dazugekommenen zu leisten
.Einladung zur Teilnahme am Deutschkurs

Im Bereich mit Angeboten für russlanddeutsche Übersiedler, in dem ich arbeite, kommen vor allem Frauen, jüngere und ältere. An den Sprachkursen nehmen auch Männer teil. Die "Zurückhaltung" der Männer hat wohl damit etwas zu tun, dass es zu ihrem Selbstbild gehört, Probleme weitgehend allein zu lösen. Frauen und Mädchen sind da offener. Sie kommen zu uns, weil sie mit irgendeiner Sache nicht zurechtkommen und Hilfe brauchen. Meistens sind das Behördenangelegenheiten, besonders Dinge, die mit dem Sozial- oder Arbeitsamt zu regeln sind. Doch wir beraten nicht nur. Gleichzeitig bieten wir auch viel Raum, aus der häuslichen Isolierung herauszukommen, außerhalb der eigenen vier Wände aktiv zu werden und so Zugang zur Gesellschaft zu finden. Wir haben eine Vielzahl von Arbeitskreisen für Handarbeit und künstlerische Tätigkeit. Es finden regelmäßig Vorträge und multikulturelle Veranstaltungen statt. Dort treffen sich Einheimische, Russlanddeutsche und Leute anderer Nationalität, die im Stadtbezirk leben.

Wöchentlich gibt es ein Frühstück, wo sich russlanddeutsche Frauen treffen. Sie sind dort unter sich, es wird vor allem Russisch gesprochen. Ist dieses "Unter-Sich-Sein" für den Integrationsprozess nicht hinderlich?

Es ist ein starkes Bedürfnis vieler Frauen, in einer entspannten Atmosphäre über all das zu sprechen, was sie bewegt - über das, was sie hier bedrückt, und auch über das, was sie aus ihren Herkunftsgebieten an Erinnerungen und Problemen mitgebracht haben. Am besten und am leichtesten können sie das natürlich in Russisch. Mit diesem Frühstück schaffen wir vor allem atmosphärisch den Rahmen, in dem die Frauen Zugang und Vertrauen zu unserem Zentrum finden und ihre Sorgen und Nöte auch aussprechen.

Aus meiner eigenen Erfahrung weiß ich, wie wichtig es ist, Hemmungen abzulegen und miteinander ins Gespräch zu kommen. Es kommt darauf an, zunächst einmal so von den anderen akzeptiert zu werden, wie man ist. Gleich mit Forderungen zu kommen, so etwa mit dem Verlangen, nur noch Deutsch zu sprechen, wäre wohl nicht der richtige Weg. Man muss schrittweise vorgehen. Diese Veranstaltung wird, wie schon gesagt, durch andere ergänzt, wo andere Aspekte - Verbesserung der Deutschkenntnisse sowie Information und Beratung zu verschiedenen Themenbereichen - im Vordergrund stehen.

Integration ist bekanntlich eine sehr komplexe Angelegenheit. Es werden einerseits Dinge bewahrt - die russische Sprache und Kultur, Erinnerungen usw. und andererseits ist viel Neues zu lernen, in der Einstellung und im Verhalten. Entscheidend für unsere Arbeit im Begegnungszentrum ist es, durch ein vielfältiges Angebot allen russlanddeutschen Besuchern zu helfen, die noch vorhandene Fremdheit in Deutschland abzulegen, die eigene Isolierung zu überwinden und aktiv an der Seite der Einheimischen am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Dem dient auch das "Frauen-Frühstück".

Worauf legen Sie in ihrer Arbeit mit dem Einzelnen besonderen Wert?

Zu meinen Erfahrungen gehören da hauptsächlich zwei Dinge, von denen ich mich leiten lasse: Aus eigenem Erleben weiß ich, wie schwierig es für viele ist, Verunsicherungen und Hemmungen zu überwinden und wieder Zutrauen zu sich zu finden. Deshalb höre ich, wenn jemand zu uns kommt, geduldig zu und gebe ihm viel Zeit, um sich mit seinen Problemen zu öffnen. Gegenseitiges Vertrauen zu schaffen ist unentbehrlich.

Viele Frauen und Mädchen sähen es gern, wenn wir im Begegnungszentrum ihnen viele Arbeiten abnehmen, Behördenbriefe schreiben oder bestimmte Angelegenheiten mit dem Sozial- oder Arbeitsamt regeln würden. Wir machen das bewusst nicht. Wir geben nur Ratschläge und Hilfestellungen. Den Rest müssen sie selbst in die Hand nehmen. Der Weg aus der Isolierung und in die Gesellschaft hinein verlangt letztlich unabdingbar das eigene Tun. Da gibt es häufig noch Defizite. In dieser Richtung arbeite ich vor allem. Vertrauen ins eigene Tun zu stärken, das nötige Wissen zu vermitteln und Aktivität auszulösen - darauf muss aus meiner Sicht jede Integrationsarbeit im besonderen Maß ausgerichtet sein.
Startseite  |   Inhalt   |  zurück   |   nach oben