Geschichte der Russlanddeutschen

8 Kulturarchiv

8.2.5 Schicksalswege — Erinnerungen

8.2.5.3.6 Sophia und Alexander Merk

"Hier ist Ust-Kamenogorsk abgebildet", Sophia Merk reicht das Foto herüber und fügt hinzu: "Ja, in dieser Stadt in Kasachstan haben wir 36 Jahre lang bis zu unserer Übersiedlung nach Deutschland gelebt. Dort sind unsere drei Kinder groß geworden. Ust-Kamenogorsk ist eine Industriestadt. Die Industriebetriebe befinden sich gleich dicht an der Stadt, ja, um genauer zu sein, sie bilden mit der Stadt ein geschlossenes Ganzes. Wir haben von 1957 bis 1979 in der Buntmetallurgie, im Blei-Zink-Kombinat gearbeitet." "Das war ein großer Betrieb", sagt Alexander Merk, "in ihm waren zuerst ca. 10 000 Leute beschäftigt, später bei fortschreitender Technisierung und Automatisierung etwas weniger. Meine Frau und ich waren in der Zinkschmelzerei tätig, in der gleichen Brigade und immer in der gleichen Schicht. Unsere Brigade bestand aus 14 Arbeitern, insgesamt waren wir in der Zinkschmelzerei etwa 200 Leute. Nun, die Arbeit war nicht leicht, in den Anfangsjahren sogar sehr schwer. In einer Schmelzerei gibt es keinen Stillstand, keine wirklichen Pausen wie bei anderen Arbeiten. Der Vorgang des Schmelzens bestimmte unerbittlich den Arbeitsrhythmus. Stunde um Stunde standen wir an den Öfen, ich bei der Bestückung der Öfen und Sophia beim Abstich, wo sie mit anderen Kollegen den Schaum und die Blasen von den abgefüllten Zinkkokillen abzuschöpfen hatte. Wir wurden nur einmal, höchstens aber zweimal während einer Schicht für eine Viertelstunde abgelöst, um ein bisschen Tee zu trinken und einen Happen zu essen. Mehr ließ die Technologie nicht zu. Es wurde rund um die Uhr gearbeitet, Tag für Tag, Jahr um Jahr, der Schmelzvorgang ließ keine Unterbrechung zu."

"In der Halle herrschte eine große Hitze, 40 bis 50 °C, im Winter ein bisschen weniger", sagt Sophia Merk. "Oft war es zugig. Trotz der Hitze konnte man sich leicht erkälten. Ständig mussten wir Schutzbekleidung und Brillen tragen, die uns zwar vor dem heißen Metall schützten, andererseits die Hitze nicht erträglicher machten. Ja, die Arbeitsbedingungen waren schwer, und dennoch hat uns diese Arbeit gefallen. Zinkschmelzer, Metallurge zu sein, in einem anerkannten, gut bezahlten Beruf zu arbeiten, war schon eine schöne Sache. Dafür haben wir schon manche Erschwernis auf uns genommen. Als ich dort anfing zu arbeiten, waren einige Frauen in der Brigade. In den letzten Jahren wurden keine mehr eingestellt. Ich blieb; ich wollte in den letzten Arbeitsjahren nicht woandershin wechseln und auf die Vergünstigungen verzichten, die Metallurgen ebenso wie Bergleute in der Sowjetunion in der Altersversorgung hatten.

Wir haben immer drei Tage gearbeitet und hatten dann zwei Tage frei. Wenn unsere Schicht von Mitternacht bis sechs oder acht Uhr früh ging, dann hatten wir sogar drei Tage frei. In den ersten Jahren dauerte eine Schicht sechs Stunden, als wir dann mehr Technik hatten, acht Stunden.
Gießerei im Blei-Zinn-Kombinat von Ust-Kamenogorsk

Die hygienischen und sozialen Einrichtungen um die Produktion herum waren gut. Wir konnten uns nach der Arbeit duschen und umziehen. Es war zum Beispiel nicht gestattet, in Arbeitsbekleidung oder in schmutziger Kleidung nach Hause zu fahren. Wir gingen auch als Zinkschmelzer wie Büroangestellte gekleidet zur Arbeit und kamen wie solche wieder zurück."

Wie war die Betreuung und Erziehung der Kinder mit der Schichtarbeit zu vereinbaren? ""Das war nicht einfach", bekennt Sophia Merk. "Es gab manche schwierige Situation, besonders als die Kinder noch klein waren oder wenn sie mal krank wurden. Zum Glück wohnten in diesen Jahren zuerst meine Mutter und später dann meine Schwiegermutter bei uns. Und wir hatten eine Zeit lang Untermieter, die sich auch mit um die Kinder kümmerten, wenn wir auf Arbeit waren."

Auf einem weiteren Foto ist ein großes palastartiges Gebäude zu sehen. "Das ist der Kulturpalast des Kombinats", erklärt Sophia Merk. "Dort waren wir regelmäßige Besucher. Unvergesslich sind uns die zahlreichen Kulturveranstaltungen, die wir da besuchten, die Theater- und Opernaufführungen sowie die vielen Estradenprogramme.

Wir sind dort zum Tanzen gegangen und haben manches Fest mit unseren Kollegen gefeiert. Besonders zum Tag des Metallurgen war in jedem Jahr immer mächtig viel los. Auch für die Kinder wurde viel geboten. Kinderfeste, Zirkelnachmittage und Arbeitsgemeinschaften standen auf dem Programm. Ja, wir können sagen, in Sachen Kultur wurde unter der Regie des Kombinats schon einiges auf die Beine gestellt. An den freien Arbeitstagen sind wir vor allem in den Sommermonaten mit den anderen Kollegen aus unserer Schicht oft aus der Stadt hinaus ins Grüne zum Picknick gefahren, häufig an die Ufer der Seen, wo das Wasser des Irtysch für die großen Wasserkraftwerke gestaut wird. An Essen und Trinken sowie an lustiger Stimmung war meistens kein Mangel. Oft gesellten sich zu uns auch Fremde, andere Leute aus der Stadt oder vom Lande, die uns bei unserem geselligen Treiben begegneten. Damals in dieser Zeit gab es keine gegenseitige Reserviertheit, wir fühlten uns als Gemeinschaft und jeder, der es wollte, war uns willkommen. Zuletzt hatten wir 33 Urlaubstage und durch das Anhängen von freien Tagen war viel Zeit, um unsere Verwandten im Omsker Gebiet und in Alma Ata zu besuchen und sich vom Arbeitsalltag zu erholen. Das war keine schlechte Zeit für uns, damals in Ust-Kamenogorsk. Auch nach unserer Pensionierung 1979 konnten wir einige schöne Reisen in die verschiedensten Regionen der Sowjetunion unternehmen."

Alexander Merk holt weitere Fotos hervor. Eines zeigt eine Schulklasse, dritte oder vierte Klasse, Jungen und Mädchen mit Musikinstrumenten, inmitten der Schüler ihr Lehrer. "Dieses Foto ist aus einer ganz anderen Zeit und aus einem ganz anderen Abschnitt unseres Lebens. Das ist aus dem Jahre 1937. Der Mann, das ist mein Vater mit seinen Schülern, nach den Proben im Musikzirkel, den er als Grundschullehrer leitete. "Das Gesicht und die Art und Weise der Rede von Alexander Merk werden plötzlich ernster und nachdenklicher. Nur langsam kommen ihm jetzt die Worte von den Lippen. "Die Geschichte unserer Familien, die von Sophia und von mir, widerspiegelt den Lebensweg vieler russlanddeutschen Familien im letzten Jahrhundert. Was soll ich da sagen, das meiste ist wohl doch schon bekannt, man kann es in Büchern nachlesen." Und dennoch beginnt Alexander Merk zu erzählen, zuerst noch zögerlich, doch dann immer bestimmter und eindringlicher. Es ist zu spüren, es sind keine fernen Erinnerungen, über die er spricht, es ist vielmehr eine Zeit, die in seinem Denken und Fühlen ganz gegenwärtig ist, so, als ob alles erst gestern geschehen wäre.

Der Vater und die Mutter von Alexander Merk wurden 1898 im Wolgagebiet geboren. Ihre Eltern waren Bauern. 1916 haben sie geheiratet. Der Vater hat als Schreiber dort in einem Dorfsowjet gearbeitet. Sie zogen des Öfteren um, weil der Sowjet im Zuge von veränderten Verwaltungsstrukturen einige Male seinen Standort wechselte. Alexander Merk kam 1928 als viertes Kind von insgesamt sechs Kindern der Familie im Dorf Neu Laub, im Wolgagebiet, im Marientaler Kanton-Bezirk, zur Welt.
lehrer

1933 verließ die Familie das Wolgagebiet und zog in die Nähe von Omsk. Missernten hatten eine Hungersnot ausgelöst. Viele Menschen sind damals verhungert oder starben an von Unterernährung hervorgerufenen Krankheiten. "Viele deutsche Familien verließen ihre Dörfer und Städte und suchten damals in Sibirien einen Neuanfang. Auch mein Vater wurde sehr krank, es ist ein Wunder, dass er die Krankheit, den Flecktyphus, überstanden hat. Als es ihm etwas besser ging und er wieder laufen konnte, haben sich meine Eltern mit uns, den sechs Kindern, auf den Weg nach Sibirien gemacht.

1937 zogen wir ins Dorf Alexejewka. Dort lebten etwa 60 Familien, fast alle deutscher Nationalität. Der Vater machte von 1936 bis 1940 ein Fernstudium. Er durfte allerdings schon vor Abschluss des Studiums die deutschen Kinder des Dorfes als Grundschullehrer unterrichten. Er interessierte sich sehr für Musik und Musikinstrumente.

Irgendwo hatte mein Vater in einem der umliegenden Dörfer eine alte Fußorgel aufgetrieben. Sie war sein ganzer Stolz. Ich erinnere mich noch sehr gut, er nahm sie mit nach Omsk, als wir dorthin mit dem Musikzirkel zu einem Wettbewerb reisten. Er begleitete mit ihr unseren Chorgesang. Dies sorgte damals für einiges Aufsehen. Das war etwas Außergewöhnliches. Vater war ein sehr engagierter Mann. Besonders für die Musik scheute er keine Mühe."

Alexander Merk besuchte die Grundschule in Alexejewka. Der Unterricht wurde erst ganz in Deutsch abgehalten. Russisch lernten die Schüler ab der zweiten Klasse als Fremdsprache. 1938 kam die Verordnung heraus, die besagte, dass außerhalb der Wolgarepublik Deutsch nicht mehr als Hauptsprache gelernt werden durfte. "Plötzlich mussten wir in allen Fächern Russisch sprechen, Deutsch wurde als Fremdsprache gelehrt. Dieser Wechsel war auch für mich eine gewaltige Umstellung. Es war nicht einfach, so schnell die russische Sprache richtig zu erlernen. Oft gab es deswegen Tränen."

Im Juli 1941 verließ die Familie das Dorf Alexejewka und zog nach Frunse in Kirgisien. Der Vater war kränklich, hatte ein Nierenleiden. Die Ärzte hatten ihm einen Klimawechsel empfohlen. "Doch unser Aufenthalt dort war nur von sehr kurzer Dauer. Im August des gleichen Jahres wurden alle Bürger der Sowjetunion deutscher Nationalität unter Kommandanturbewachung gestellt. Sie durften ihre Wohnorte nicht mehr verlassen und mussten sich regelmäßig bei den Behörden melden. Und es war für meinen Vater absehbar, dass auch er bald zum Militär- oder Arbeitsdienst eingezogen werden würde. Was sollten meine Eltern tun? Wir waren in der großen Stadt Frunse noch fremd, hatten wenige Bekannte. Wovon sollten wir leben, wenn Vater nicht mehr für uns sorgen konnte? Wir hatten keinerlei Ersparnisse. Meine Eltern entschlossen sich, wieder zurück nach Alexejewka zu gehen. Auf dem Lande war es leichter zu überleben. Dort hatten wir Freunde und Bekannte. Wie mein Vater aber die Rückkehr zu Wege gebracht hat, trotz der Kommandantur, das weiß ich bis heute nicht."

"Wieder zurück in Alexejewka, verspürte ich, der Dreizehnjährige, sehr krass und schnell, dass sich in unserem Leben und dem der übrigen deutschen Familien etwas grundsätzlich verändert hatte. In Frunse hatte ich mit der sechsten Klasse begonnen. Jetzt wieder im Omsker Gebiet, in Marianowka, einem zentraleren Ort, sollte ich sie fortsetzen. Doch es war nicht möglich. Die russischen Mitschüler, die ich zum größten Teil von früher her kannte und mit denen ich ohne Probleme ausgekommen war, beschimpften mich von nun an nur noch mit solchen Wörtern wie "Faschist" oder "Hitler". Ich wurde von ihnen verprügelt und schikaniert, ohne dass ich irgendwelchen Beistand bekam. So oder ähnlich ging es auch den anderen deutschen Schülern.

Im April 1942 habe ich dann notgedrungen mit dem Lernen aufhören müssen. Meine Schul- und Kinderjahre waren jäh zu Ende. Es kamen die schweren, die langen Kriegsjahre ..." Alexander Merk unterbricht seine Erinnerungen und macht eine längere Pause.

Der Krieg und die Sonderbedingungen der Deportation und des Arbeitsdienstes für die Menschen deutscher Nationalität hinterließen auch in der Familie Merk tiefe und schmerzliche Spuren. Bruder Heinrich diente seit 1940 in der Armee und war mit seiner Einheit in der Westukraine stationiert. Seit Beginn des Krieges war er Dolmetscher im Stab an der Front. Er ist dort gefallen. Die Vermisstenanzeige ist auf den Dezember 1942 datiert. Der Vater wurde im Februar 1942 in die Trudarmee eingezogen. Er musste in einem Arbeitslager im Gebiet von Tscheljabinsk Holz schlagen. Im Juli 1943 ist er dort gestorben. Seine geschwächte Gesundheit konnte nicht dem Klima und den äußerst schweren Arbeitsbedingungen trotzen. "Wir haben niemals, auch nicht nach dem Ende des Krieges, eine offizielle Todesmeldung erhalten. Nur über Leute, die mit ihm in der Trudarmee waren und an seiner Seite arbeiteten, haben wir durch deren Briefe von seinem Tod erfahren." Bruder Peter kam ebenfalls 1942 in die Trudarmee. Dort kam es zu einer Auseinandersetzung mit einem Vorgesetzten. "Er soll ihn geschlagen haben. Etwas Genaues ist nie bekannt geworden. Peter wurde vor's Kriegsgericht gestellt und zu acht Jahren Strafarbeit verurteilt. Am 3. Mai 1943 ist er dann dort zu Tode gekommen, 28 Tage vor seinem 18. Geburtstag. Auch das habe ich erst Jahrzehnte später erfahren, als ich in Archiven um Nachforschungen ersucht hatte."

Alexander Merk blieb mit seiner Mutter sowie seinen Schwestern und der Schwägerin allein in Alexejewka. "Die Situation im Dorf war trostlos. Im Herbst und Winter 1941 kamen deportierte Familien aus dem Wolgagebiet und anderen deutschen Siedlungsgebieten im europäischen Teil Russlands auch in unser Dorf. Ich glaube, es waren zwölf Familien, zumeist ohne die Väter und ohne die erwachsenen Kinder, nur Frauen mit kleinen und halbwüchsigen Kindern. Sie hatten kaum etwas bei sich, oft nur einen kleinen Koffer mit ein paar Kleidungsstücken. Ich vergesse die Bilder nicht, wie sie nach der langen Reise in Viehwaggons hungrig und unendlich traurig durch's Dorf geführt und bei den Einheimischen und in leerstehenden, verfallenen Häusern einquartiert wurden. Noch heute blutet mir das Herz, wenn ich daran denke. Wir Dorfbewohner konnten den Neuankömmlingen nur wenig helfen. Wir gaben ihnen etwas zum Essen, doch wir hatten selbst nicht genug. In der Kolchose wurde wenig produziert und das Wenige musste zur Versorgung der Soldaten im Krieg abgeliefert werden. Fast alle erwachsenen Männer und die Frauen, die keine Kinder unter drei Jahren hatten, mussten in die Trudarmee. Die Kinder, die nicht bei Verwandten untergebracht werden konnten, kamen in ein Kinderheim.

Viele von ihnen sind während der Kriegsjahre an Unterernährung gestorben. Meine Mutter wurde Gott sei Dank nicht zum Arbeitsdienst eingezogen. Ihre kranken Füße verhinderten das. Doch meine Schwägerin musste gehen... Es war eine unglaublich schwere Zeit. Das Leid und der Tod suchten jede Familie heim. In unserem Dorf und im Kolchos waren fast nur noch Alte und Kinder. Sie allein mussten die ganze Arbeit machen."

als jugendlicher

Von 1942 bis 1951 arbeitet Alexander Merk im Kolchos von Alexejewka. Dort musste er alle Arbeiten ausführen, besonders während der Kriegszeit auch die schweren A. Merk am Ende der 40er Jahre Arbeiten, die gewöhnlich erwachsenen Männern vorbehalten sind. Das meiste musste mit den bloßen Händen gemacht werden. Maschinen gab es nur wenige, Traktoren kaum. Der Krieg fraß alles auf. Nach dem Ende des Krieges ging es ganz allmählich voran. "Die Väter, sofern sie überlebten, kamen nach und nach von der Trudarmee zurück. Aber viele junge Männer blieben in den Orten und Gebieten, wo sie in der Trudarmee gedient hatten. Es gab nun für die Arbeit Lohn, meistens keinen schlechten. Und viele haben dort Russinnen geheiratet und eine Familie gegründet. In den Dörfern fehlten sie. Die Kolchosen erholten sich nur sehr langsam von diesem Aderlass. Erst als Ende der 40er und Anfang der 50er Jahre mehr Technik ins Dorf kam, wurde das Leben wieder besser." In den letzten Jahren seines Aufenthaltes in Alexejewka arbeitete Alexander Merk als Traktorist.

1951 zog er mit Erlaubnis des Kommandanten - die Kommandanturzeit war noch nicht aufgehoben - zu Verwandten in einen anderen Bezirk des Omsker Gebietes. Im Bolschokowski Sowchos arbeitete er in den Sommermonaten in der Ziegelei, die zum Sowchos gehörte und Ziegel für dessen Bautätigkeit, für die Errichtung von Häusern und Ställen, herstellte. "In den Wintermonaten, wenn die Ziegelei nicht produzieren konnte, war ich in der Viehzucht tätig. Wir mussten uns um die Jungrinder kümmern, Futter heranschaffen und die Tiere füttern. Der Sowchos war ziemlich groß, sechs bis sieben Tausend Menschen haben dort gearbeitet. Zu ihm gehörten zuerst vier, später sieben Dörfer. An der Ziegelei, wo ich wohnte, gab es allerdings nur 12 Hofplätze. Da draußen war eine schöne Gegend, viel Grün, ein schöner Wald, die vielen Birken und Espen. Sehr schön ,nicht wahr, Sophia?" Er wendet sich seiner Frau zu. Sie stimmt ihm zu und lächelt.

Dort in der Siedlung an der Ziegelei haben sich Alexander und Sophia kennen gelernt. Ihr Vater und später einer ihrer älteren Brüder leiteten die Ziegelei. Dort haben Alexander und Sophia geheiratet und dort wurden ihre drei Kinder, zwei Mädchen und ein Junge, geboren.
Russlanddeutsche Traktoristen in Kasachstan (1953)

"Meine Eltern, Johann und Maria Gildenberg, beide 1887 geboren", erzählt Sophia Merk, "kamen auch aus dem Wolgagebiet nach Sibirien, allerdings schon in den 20er Jahren. Vater hatte das Ziegeleihandwerk eigentlich nicht von der Pike auf gelernt, doch als ein sehr interessierter und ungeheuer praktischer Mensch war er darin irgendwie kundig geworden. In all den Jahren bis zum Rentenalter leitete er in Sibirien Ziegeleien und war darin ein angesehener Fachmann. Ich wurde 1934 in Nowopopowka geboren. Auch wir waren eine große Familie, ich hatte fünf Brüder, davon vier älter als ich. Die Kriegsjahre waren auch in unserem Dorf sehr schwer. Es blieben nur alte Leute und Kinder zurück. Alle anderen mussten weg. Es kamen viele deportierte Familien, wie schon gesagt, meistens nur ganz alte Leute, Frauen mit ihren kleinen Kindern. Auch bei uns herrschten Hunger und Krankheit." Drei ältere Brüder mussten in die Trudarmee. Einer kam als Soldat in deutsche Kriegsgefangenschaft. "Nur mein jüngerer Bruder blieb zu Hause, er wurde ja erst 1939 geboren. Wir hatten aber Glück. Im Gegensatz zu Alexanders Familie sind alle zurückgekommen, aus der Trudarmee und aus der Gefangenschaft."

1957 entschlossen sich Alexander und Sophia Merk, mit ihren drei Kindern das Leben auf dem Lande aufzugeben und in die Stadt zu gehen. "Entscheidend für diesen Schritt waren die Kinder", sagt Alexander Merk. "Die schulischen Bedingungen waren im Bolschokowski Sowjet nicht so gut. Es mussten lange Wege zurückgelegt werden. Besonders im Winter, wenn es sehr kalt war und der Schnee sehr hoch lag, war die Situation sehr kompliziert. Es fuhr kein Bus, sie mussten zu Fuß gehen. Und in ein Internat, die meiste Zeit weg von uns, wollten wir die Kinder nicht geben." Sie entschieden sich für Ust-Kamenogorsk in Kasachstan. Dort suchte man für die sich entwickelnden Industriebetriebe Arbeitskräfte. Der Verdienst war gut und die Kinder konnten die Vorteile der Schule in einer Großstadt nutzen. Die Familie kaufte sich zunächst ein kleines Haus. "Mehr Baracke als Haus", merkt Sophia Merk an. Später bauten sie sich ein "richtiges" Einfamilienhaus. Sie überließen es jedoch dann einem ihrer Kinder mit dessen Familie und zogen, als sie Rentner wurden, in eine Hochhauswohnung.

"Über unsere Arbeit und unser Leben in Ust-Kamenogorsk haben wir schon erzählt.", fährt Sophia fort. "Nach den schweren Kriegs- und Nachkriegsjahren sind wir dort richtig aufgelebt. Wie schon gesagt, materiell ging es uns gut, wir hatten ein gutes Verhältnis zu Arbeitskollegen und Mitbürgern, zu Russen, Kasachen und Leuten anderer Nationalität. Wir fühlten uns in Kasachstan heimisch.

Doch mit der Perestroika und dem Ende der Sowjetunion wurde es mit einem Mal anders. Unser Gefühl des Heimischgewordenseins, der Sicherheit und der Geborgenheit schwand dahin. Alte Wunden, von denen wir glaubten, dass sie schon verheilt wären, brachen wieder auf." Sophia macht eine kurze Pause. "Nicht von heute auf morgen, aber so ab 1992 und 1993." Sie erzählt von aufkommenden nationalistischen Stimmungen. Radikale kasachische Studenten und Intellektuelle zogen in dieser Zeit durch die Straßen. Sie schrieen "Russen und alle Fremden raus aus Kasachstan." In Geschäften wollten die Verkäuferinnen plötzlich kein Russisch mehr verstehen, sie sprachen die Kunden in Kasachisch an. "Es gab keine offenen Feindseligkeiten gegen uns. Aber durch solche und andere kleine Begebenheiten wurde uns zu verstehen gegeben, dass wir uns hier nicht mehr zu Hause, sondern als Fremde und als bloße Gäste fühlen sollten ... Das Gefühl der Unsicherheit, nicht nur unter den Deutschstämmigen in Kasachstan, auch unter der anderen nicht kasachischen Bevölkerung, nahm zu. Wo würde das alles noch hinführen?"
s. und a. merk

Alexander Merk zeigt Fotos von Veranstaltungen der Bewegung der "Nationalen Wiedergeburt". Auf einem ist ein Chor zu sehen, den er dirigiert. "Ja, das bin ich. Als Not am Mann war, habe ich mich als Leiter des Chors zur Verfügung gestellt. Von meinem Vater habe ich musikalisch wohl ein bisschen geerbt und ich habe wohl auch aus dem gemeinsamen Musizieren mit ihm, damals in der Schule in Alexejewka, etwas gelernt. Wir haben zu Beginn der 90er Jahre viele Veranstaltungen musikalisch ausgestaltet; Veranstaltungen, an denen häufig mehr als 300 Deutsche aus Ust-Kamenogorsk teilnahmen." In der Stadt lebten um die Wende zu den 90er Jahren noch ca. 4 000 Deutsche. Bis dahin trafen sich Deutsche untereinander nur im Familien- und Bekanntenkreis, zu Feiertagen, um Geburtstage, Ostern oder Weihnachten zu feiern. "Ende 1989 kamen außerhalb der Familienbande die Deutschen in Ust-Kamenogorsk zum ersten Mal zu Weihnachten in einer Schule zusammen, damals waren es nur wenige. Doch danach waren wir immer mehr. Wir wurden eine richtige Bewegung ... Es war nun für die Christen unter uns auch möglich, Gottesdienste abzuhalten. Ein entsprechender Raum wurde dafür gefunden und ausgestattet."

Die Bewegung der "Nationalen Wiedergeburt" und die Aktivität darin, konnten auch bei Alexander und Sophia Merk letztlich doch nicht die aufgekommene Unsicherheit beseitigen. Die wirtschaftlichen Probleme in Kasachstan und ihre sozialen Auswirkungen verunsicherten die Bevölkerung mehr und mehr. "Es stellten sich uns immer häufiger solche Fragen wie: Wird der Staat in Zukunft noch das Geld für unsere Rente haben? Werden unsere Kinder ihre Arbeit behalten, was wird aus den Enkelkindern? Neben dem Gefühl der Unsicherheit machten sich Ängste breit. Waren die guten Jahre in Ust-Kamenogorsk für uns und die Kinder nur eine kurze, bessere Episode. Würde wieder alles in ein Chaos und in Barbarei übergehen ..." Alexander Merk bricht hier ab. Seine Frau sagt nach einer kurzen Pause: "Wenn die Sowjetunion geblieben wäre, hätten wir Ust-Kamenogorsk und Kasachstan bestimmt nicht verlassen."

1994 sind Alexander und Sophia Merk nach Deutschland gekommen. Mit ihnen sind eine Tochter und der Sohn mit ihren Familien übergesiedelt. Die älteste Tochter ist in Kasachstan geblieben. Sie ist Direktorin einer Schule in Leninogorsk. Ihr Mann ist Russe.

Die letzten Fotos, die Alexander Merk hinüberreicht, zeigen die Familie schon in Berlin. "Die erste Zeit war es hier schwer. Die vielen Formalitäten, die Ämter, ihre zumeist unverständliche Sprache - all das nervte. Doch inzwischen haben wir uns eingelebt. Wir gehen regelmäßig in den Seniorenclub. Unsere Kinder und Enkelkinder brauchen unsere Hilfe, mehr, als wir zu leisten im Stande sind. Gott sei Dank haben sie Arbeit gefunden. Da sind wir mehr als froh ..." Sehr ernst werden die Gesichter noch einmal, als das Foto von Sohn Waldemar zum Vorschein kommt. Mit trauriger Stimme sagt Sophia: "Unser Waldemar hat uns schon sehr früh verlassen müssen, hier in Berlin, mit 40 Jahren, Herzinfarkt ... Ich kann es immer noch nicht fassen." Es kostet sie Mühe, die Tränen zurückzuhalten. Nach einer Weile fährt sie fort: "Das Leben ist schon schwer. Wir mussten dies und so manches andere verkraften ... Wenn wir alle hier bei uns in der Wohnung sind, unsere Tochter mit ihrer Familie und die Schwiegertochter mit den Enkelkindern, dann geht es mir besser, dann spüre ich, wir sind hier auf dem Weg, so etwas wie eine neue Heimat zu finden. Aber ich will auch nicht verhehlen, dass wir uns auch damals, in Russland und in Kasachstan, viele Jahre hindurch nicht als Fremde gefühlt haben."
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