Geschichte der Russlanddeutschen

8 Kulturarchiv

8.2.5 Schicksalswege — Erinnerungen

8.2.5.3.20 Svetlana Engel

Svetlana Engel wurde am 25. Juli 1963 im Dorf Rasdolny im Norden Kasachstans geboren. Nach der Scheidung ihrer Eltern zog die Mutter mit ihr 1967 nach Angarsk ins Gebiet von Irkutsk.

Nach Abschluss der 10. Klasse studierte Svetlana Engel von 1980 bis 1985 in Irkutsk Jura. Danach arbeitete sie zwei Jahre lang als Juristin in einer Entbindungseinrichtung.

Sie heiratete 1985. Mit ihrem Mann Boris siedelte sie 1987 nach Nischnij Udinsk über. Zuerst arbeitete sie dort in der Rechtsabteilung eines Werkes für Milchprodukte, dann als leitende Juristin in der größten Fabrik der Stadt, wo Geräte und Ausrüstungen verschiedener Art für den zivilen und militärischen Bereich hergestellt wurden. Ihr Mann war in der Stadtverwaltung und danach als Rechtsanwalt tätig.

Seit Juli 1993 ist Svetlana Engel mit ihrem Mann in Deutschland.

Die Situation war wirklich schwierig. Meine Mutter teilte mir mit, dass sie sich entschlossen habe, mit meinem jüngeren Bruder nach Deutschland überzusiedeln.
s.engel

Mein Mann und ich, wir sollten uns ihnen anschließen. Aus Sibirien und Russland für immer wegzugehen - das hatte ich noch niemals ernstlich in Erwägung gezogen. Ich hatte zunächst dazu keine Meinung. Auch die Wochen danach brachten mir keine Klarheit. Im Gegenteil, es wurde alles noch komplizierter, je mehr ich darüber nachdachte. Vieles, sehr vieles sprach dafür, in Nischnij Udinsk zu bleiben. Doch es keimte auch eine Hoffnung auf, die sich mit Deutschland verband. Ich war innerlich wie zerrissen. Wie sollte ich mich entscheiden?

Seit fünf Jahren lebte ich in Nischnij Udinsk und hatte als Juristin eine leitende Position im größten Werk der Region inne. Mein Mann arbeitete als Rechtsanwalt. Unser Weg dahin war alles andere als einfach. Gut, das Lernen ist mir in der Schule immer leicht gefallen. Ich gehörte stets zu den Klassenbesten. Deshalb hatte ich auch keine Schwierigkeiten, zum begehrten Jurastudium nach Irkutsk zu kommen. Doch weit schwieriger war es schon, nach dem Studium in Sibirien eine "ordentliche" Tätigkeit als Juristin zu finden. Und als Boris und ich heirateten, mussten wir beide unsere beruflichen Interessen unter einen Hut bringen.

Boris machte sein Jura-Diplom erst ein Jahr nach mir. Während dieser Zeit war ich in der Entbindungseinrichtung von Angarsk tätig. Zu dieser Einrichtung gehörten acht Entbindungshäuser und die entsprechende Verwaltung. Ich hatte mit den juristischen Fragen zu tun, die vor allem das Mutterschutzgesetz, die Vaterschaftsanerkennung und die Adoption betrafen. Die Arbeit machte mir Spaß. Das große Problem bestand jedoch darin, dass es für Boris in Angarsk keine Arbeit in seinem Beruf gab und wir außerdem keine Aussicht auf eine eigene Wohnung hatten. Der Wohnungsmangel ist eines der größten Probleme in Sibirien. Besonders junge Familie haben darunter zu leiden. Wir haben uns dann entschlossen, Angarsk zu verlassen und nach Nischnij Udinsk zu gehen. Die Verantwortlichen in der Stadtverwaltung hatten uns dort Arbeit und eine Wohnung versprochen.

Doch als wir nach Nischnij Udinsk kamen, war alles ganz anders. In der Stadtverwaltung hatte man mit einem Mal keine Planstelle mehr für einen Juristen. Boris blieb nichts anderes übrig, als eine Tätigkeit als Hausmeister im Krankenhaus aufzunehmen. Daneben konnte er dann später wenigstens für ein paar Stunden eine juristische Arbeit in einer Handelsfirma bekommen. Auch mit der Wohnung klappte es nicht. Wir mussten bei einem Freund ein sehr kleines Zimmer bewohnen. Insgesamt teilten sich die Wohnung fünf Erwachsene und ein Kind. Obwohl wir alle miteinander gut auskamen, war es doch fürchterlich eng. Erst nach längerer Zeit und nach langem Hin und Her ist es uns dann endlich gelungen, die ersehnte eigene Wohnung zu bekommen. Und auch beruflich hatten wir inzwischen eine Menge erreicht. Boris konnte sich als Rechtsanwalt selbstständig machen. Und ich fand die Tätigkeit als leitende Juristin im Werk. Das waren vom Ansehen und auch vom Gehalt her respektable Positionen. Sollten wir all das aufgeben? Und auch die vielen Freunde, die wir inzwischen dort gefunden hatten?

Hinzu kam noch eine andere Sache, die mich daran hinderte, dem Umsiedlungsplan der Mutter zuzustimmen. Mein Verhältnis zur eigenen deutschen Nationalität und zu Deutschland war nicht so ausgeprägt, wie das sicherlich bei vielen anderen Russlanddeutschen der Fall ist. Mein Vater und meine Mutter waren deutschstämmig. Doch ich war noch klein, als sie sich scheiden ließen. Meine Mutter zog mit mir in ein städtisches Gebiet nach Sibirien, wo überwiegend Russen und nur wenige Deutsche lebten. Mein Stiefvater und meine Spielgefährten waren Russen. Zu Hause sprachen wir nur Russisch. Zur deutschen Sprache und Kultur hatte ich lediglich eine lose Bindung.

In den Schulferien bin ich des Öfteren zu meinen Großeltern ins Omsker Gebiet gefahren. Dort im Kolchos und in der Familie hörte man auch Deutsch. Großvater war überzeugter Kommunist. Er hieß Adolf Hoffmann. Für ihn war es selbstverständlich, dass er mit diesem Vornamen mit Beginn des Krieges nicht mehr Vorsitzender des Kolchos bleiben konnte. Auch die Zeit in der Trudarmee war für ihn ein notwendiges Übel. Er hatte sich nach dem Krieg wieder zum Brigadier hochgearbeitet. Die deutsche Nationalität und die damit verbundenen Probleme in der Sowjetunion waren für ihn zweitrangig. Er sprach nicht darüber. Als Kommunist konzentrierte er sich auf andere Dinge. In diesem Kontext blieb mir die eigene Nationalität sehr lange unbekannt bzw. fremd. So richtig wurde ich erst damit konfrontiert, als ich eines Tages im Klassenbuch sah, dass hinter meinem Namen in der Rubrik Nationalität Njemka, Deutsche, stand. Ich war darüber ziemlich erschrocken. Deutsch, Deutsche und Deutschland wurde überall in meinem Umfeld mit solchen Begriffen wie Krieg, Faschismus und Verbrechen assoziiert. Ich erinnere mich noch ziemlich genau: an diesem Abend, als ich diese Entdeckung machte, hat meine Mutter mit mir sehr lange gesprochen. Sie machte mir deutlich, dass wir uns unserer Nationalität nicht zu schämen bräuchten. Deutschland sei nicht nur Hitler, sondern auch Goethe, Schiller und Beethoven ...
Brücke über die Angara in Irkutsk

Über Deutschland wusste ich bis ins Erwachsenenalter hinein nicht allzu viel. Auch in Nischnij Udinsk wurde die Bewegung der Nationalen Wiedergeburt der Russlanddeutschen zu Beginn der 90er Jahre aktiv. Funktionäre der Bewegung traten an mich heran. Sie waren daran interessiert, mich als Juristin zur aktiven Mitarbeit bei der Durchsetzung ihrer Ziele zu gewinnen. Doch ich hielt mich da heraus. Die Politik war nicht mein Bereich. Und außerdem hielt ich die Forderungen nach einem autonomen Gebiet für die Deutschen in Russland, eigene Duma-Abgeordnete usw. für unrealistisch.

Ich kannte Deutschland nicht und ich sprach kein Deutsch. In der Schule hatte ich zwar ein bisschen Deutsch als Fremdsprache gelernt. Doch auch diese geringen Kenntnisse waren längst versandet. Eigentlich war alles klar. Es gab keine hinreichenden Gründe, uns der Entscheidung der Mutter, nach Deutschland überzusiedeln, anzuschließen. Und dennoch haben wir uns letztlich anders entschieden.

Es hing mit meiner Krankheit zusammen. 1981/82 traten die ersten Symptome auf. Beim Laufen war mir häufig schwindlig. Ich schwankte manchmal wie eine Betrunkene. Der Arzt schickte mich ins Krankenhaus zu einer tiefergehenden Untersuchung. Ich dachte an nichts Ernsthaftes. Die Sache wäre, so meinte ich, in wenigen Tagen ausgestanden. Die Diagnose der Ärzte: die Anfänge einer Ataxie. Mit dieser Bezeichnung konnte ich wenig anfangen. Man klärte mich auf: Ataxie, eine Störung in der Koordinierung von Muskeln und von Bewegungsabläufen, nicht heilbar, fortschreitender Verlauf, Invalidität. Für mich brach die Welt zusammen. Alles hatte sich im Nu verändert ...

Ich war verzweifelt und durchlebte eine tiefe Depression. Nur sehr langsam bin ich da wieder herausgekommen. Ein Freund half mir, nicht nur mit netten Worten, sondern er sprach sehr offen mit mir, er sagte mir auch unangenehme Wahrheiten. Ich hätte kein Recht, vor dieser Krankheit zu kapitulieren. Auch Boris, mein Mann, stand mir zur Seite. Er hat eine angeborene Sehschwäche. Wenn er von Mut und Zuversicht sprach, dann wogen seine Worte doppelt schwer. Er lebte es mir vor, wie man mit einem Leiden umgeht. Langsam habe ich wieder ins Leben zurückgefunden. Ich habe das Jurastudium beendet und beruflich meinen Weg gemacht. Als nun die Aufforderung, mit meiner Mutter nach Deutschland zu gehen kam, keimte sofort die Hoffnung auf: Vielleicht können sie mir in Deutschland helfen, die Krankheit heilen oder wenigstens stoppen. Dort ist die Medizin sicherlich weiter als in Russland. Neben dem lateinischen Begriff Ataxie spricht man im Russischen auch von der Friedreichschen Krankheit, benannt nach dem deutschen Arzt Nikolaus Friedreich, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Symptome und Ursachen dieser Erkrankung erforscht hat.

Die zuerst kleine Hoffnung wurde immer größer. Schließlich sah ich darin die einzige Chance, meinem gesundheitlichen Schicksal zu entfliehen. Nach vielen Gesprächen mit Boris und mit Freunden war diese Hoffnung dann der Grund für unsere Entscheidung, allen Bedenken zum Trotz, doch mit nach Deutschland zu gehen. Eine kleine Hintertür ließen wir uns allerdings offen. Ich hatte mit meinem Chef verabredet, dass ich innerhalb eines halben Jahres auf meinen Arbeitsplatz zurückkommen könnte, wenn wir in Deutschland nicht zurechtkommen würden. Auch hinsichtlich unserer Wohnung vereinbarten wir mit dem neuen Eigentümer ähnliches.

Die ersten Wochen in Deutschland waren mit dem Üblichen ausgefüllt. Wir kamen ins Aufnahmelager und dann in ein Wohnheim. Wir hatten den langen Marsch durch die Ämter und Behörden zu machen. Das war alles ziemlich beschwerlich. Wir waren in ganz neue Verhältnisse gekommen und erlebten auch manch komische Situation. Zu Beginn meinten wir, dass unsere Deutschkenntnisse, die wir uns noch vor der Abreise in Sibirien mit viel Fleiß angeeignet hatten, ausreichen würden. Doch zu unserer Überraschung verstanden wir nicht, was die Behörden mit ihren Fragenbögen von uns wollten. Diese Sprache war für uns unverständlich. Es gab so manches Missverständnis. Zum Glück hatten wir es mit Leuten in den Verwaltungen zu tun, die uns die Sachverhalte geduldig erklärten. Auch die anderen Leute im Wohnheim, die schon einige Zeit in Deutschland waren, halfen uns beim richtigen Ausfüllen der Formulare. Oft lachten wir gemeinsam, wenn wir schließlich den Durchblick für einen Sachverhalt gewonnen hatten und uns unsere anfängliche Unbeholfenheit deutlich wurde. In dieser Zeit lernten wir die ersten Berliner kennen, zumeist freundliche und hilfsbereite Menschen.

Die Schwierigkeiten des Anfangs in Deutschland brachten uns überhaupt nicht aus der Fassung. Meine ganze Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf die eine Sache: was würden die Ärzte hier über meine Krankheit sagen. Drei Monate waren wir in Berlin. Ich fieberte dem Termin mit dem Spezialisten entgegen. Was würde er sagen, konnte er mir helfen? Das Ergebnis war für mich furchtbar. Der Spezialist wiederholte im Prinzip die Aussage der Ärzte in Nischnij Udinsk. Keine Aussicht auf Heilung. Das Einzige, was man machen kann, sind Gymnastik, Massagen, orthopädische Schuhe und ein Rollstuhl. Meine Hoffnung war im Laufe der Wochen und Monate sehr groß geworden und nun zerbarst sie wie eine Seifenblase. Für mich stürzte zum zweiten Mal die Welt ein. Es war fast noch schlimmer als beim ersten Mal, als ich damals vor knapp 20 Jahren von meiner Krankheit erfahren hatte. Ich weinte viel. Ich war unendlich traurig und niedergeschlagen ...

Neben Boris bin ich zwei Menschen hier in Berlin sehr dankbar. Sie haben mir in dieser für mich fast ausweglosen Situation sehr geholfen. Ich lernte Frau K. kennen. Sie war Lehrerin in dem Deutschkurs, den wir mit anderen Russlanddeutschen besuchten. Bei ihr habe ich nicht nur eine Menge Deutsch gelernt, sondern sie kam mir auch menschlich sehr nahe. Sie vermittelte mir nach einigen Monaten einen zweiten Spezialisten für meine Krankheit.
Frau Dr. A. ist nicht nur eine gute Ärztin, sondern sie nahm sich auch die Zeit, um mit mir sehr ausführlich über meine Krankheit zu sprechen. Durch viele Gespräche mit ihr habe ich allmählich gelernt, das Unabänderliche nicht nur zu akzeptieren, sondern auch mit der Krankheit ein bisschen umzugehen. Meine Seele hat so etwas wie festen Boden gefunden, so dass ich über die Krankheit hinaus wieder aufs Leben schauen konnte.

Sollten wir in Deutschland bleiben oder wieder nach Russland zurückkehren? Noch gab es die erwähnte kleine Hintertür. Boris und ich haben nochmals lange hin und her überlegt und uns dafür entschieden, in Berlin zu bleiben. Ich werde in meinem weiteren Leben an den Rollstuhl gebunden sein.
Bahnhof Zoologischer Garten in Berlin

Die medizinische Betreuung, die ich hier bekomme, ist mit der in Russland nicht vergleichbar. Dort ist die Gesellschaft im völligen Umbruch. Kranke und Invaliden haben es mit am schwersten. Es fehlt am Nötigsten, an Rollstühlen und an Medikamenten. Für Behinderte gibt es keine Infrastruktur. Boris kann aufgrund seiner Sehschwäche nicht Auto fahren. Wie sollte ich mich dort außerhalb des Hauses bewegen? Hinzu kommt noch ein Weiteres:
In kurzer Zeit hatten wir uns in Berlin bereits einen großen Bekannten- und Freundeskreis geschaffen. Wir hatten, wenn ich so sagen darf, damals schon erste Wurzeln geschlagen. Und außerdem gefällt uns die Stadt Berlin sehr gut.

Wir sind viel herumgekommen, vor allem beim Besuch von Ämtern und Behörden sowie bei der Wohnungssuche. Es gibt so viele schöne Ecken, die uns in kurzer Zeit ans Herz gewachsen sind und die wir nicht mehr missen möchten. Wir nutzen auch reichlich die Möglichkeiten, die uns Kino und Theater in der großen Stadt bieten. Wir, die körperlich behindert sind, sehen vielleicht manche Dinge in der Stadt intensiver und bauen dadurch zu ihnen ein besonders enges Verhältnis auf. Wir haben auch nicht übersehen, dass es schwer werden wird, in Deutschland eine Arbeit zu finden. Doch wer weiß, wie lange wir unsere Tätigkeit bei einer Rückkehr nach Nischnij Udinsk behalten würden.
Fotoausstellung " Frauenbilder - Hoffnung und Wirklichkeit" im Projekt "Meridian", Berlin-Marzahn (2000)

Wir wollen unsere Chance auf Arbeit nutzen. Nachdem wir uns bei verschiedenen Stellen hatten beraten lassen, haben wir beide als berufliche Anpassung an die hiesigen Verhältnisse von 1995 bis 1997 noch vier Semester Jura an der Humboldt-Universität studiert. Dieses Zusatzstudium war nicht einfach. Einmal hatten wir uns unter den jungen Leuten, unseren Kommilitonen, zurechtzufinden. Und zum anderen war natürlich viel Neues, für uns manchmal schwer Verständliches, zu verarbeiten. Neben dem rein Fachlichen haben wir während dieser Zeit erst so richtig gut die deutsche Sprache gelernt.

Sehr glücklich waren Boris und ich auch, als wir danach noch die Gelegenheit erhielten, von Mai 1997 bis Februar 2000 ein juristisches Referendariat zu absolvieren. Wir haben die verschiedensten Bereiche der Justiz und der Anwaltstätigkeit in Deutschland kennen gelernt und konnten erste praktische Erfahrungen sammeln. All das war für uns sehr wichtig. Wir sind für diese uns gegebenen Möglichkeiten dankbar. In keiner Weise fühlen wir uns hier isoliert. Sowohl im beruflichen als auch im privaten Bereich haben wir vielfältige Kontakte und Freundschaften aufgebaut.

Ein Wermutstropfen ist, dass wir das zweite juristische Staatsexamen nicht bestanden haben. Diese Hürde war für uns zu hoch. Doch wir bemühen uns, positiv zu denken. Boris arbeitet zur Zeit in einer Anwaltskanzlei. Er will sich dort auf russisches Recht spezialisieren. Und auch ich bin zuversichtlich, dass ich auf juristischem Gebiet bald etwas Passendes finden werde. Der Rollstuhl wird mich daran nicht hindern.
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