Geschichte der Russlanddeutschen

8 Kulturarchiv

8.2.5 Schicksalswege — Erinnerungen

8.2.5.3.15 Svetlana Andrejeva

Svetlana Andrejeva wurde am 15. Januar 1948 in Krasnoarmejsk, in einer kleinen Stadt im Norden Kasachstans geboren. Ihr Vater und ihre Mutter, beide deutscher Nationalität, arbeiteten als Hauptbuchhalter auf dem Kolchos bzw. als Kindergärtnerin.

1965 siedelten die Eltern mit Svetlana und ihren fünf Geschwistern nach Perwomaiskoje ins Wolgagebiet um. Von dort waren die Eltern 1941 als Russlanddeutsche nach Kasachstan deportiert worden.

Svetlana Andrejeva beendete die 11. Klasse als beste Schülerin. 1966 begann sie an der Philologischen Fakultät der Universität in Saratow das Studium der russischen Sprache und Literatur. Ein Jahr später wechselte sie zur Lomonossow-Universität in Moskau. 1974 schloss sie das Studium ab. Sie war damit berechtigt, sowohl als Lehrerin an Schulen als auch als Philologin an Hochschulen und Universitäten zu arbeiten.

Von 1974 bis 1981 arbeitete sie in Moskau als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Zentralen Institut für wissenschaftlich-technische Information.
Übergabe des Universitätsdiploms an S. Andrejeva (1974)

Von 1981 bis 1992 war sie bei der Zeitschrift "Sowjetisches Ballett" tätig, zuerst als literarische Mitarbeiterin, dann als Redakteurin.

Svetlana hat 1968 Valery Andrejev geheiratet. Ihr Mann arbeitete als Geophysiker. 1972 wurde Sohn Thomas geboren. Valery Andrejev kam 1984 bei einem Unfall auf einer geologischen Expedition ums Leben.

1992 ist Svetlana Andrejeva mit ihrem Sohn nach Deutschland über gesiedelt. Ihr zweiter Ehemann, den sie 1991 geheiratet hat, ist in Moskau geblieben.

Gegenwärtig ist Svetlana Andrejeva in einem ABM-Projekt tätig, das sich der sozialen Betreuung und der Fortbildung von Russlanddeutschen und Emigranten widmet.

1992 erhielten wir, mein Mann, mein Sohn und ich, die Genehmigung zur Übersiedlung nach Deutschland. Es war für mich ein schwerer Schlag, als mein Mann erklärte, dass er doch nicht mitkommen wollte. Seine Arbeit als Mathematiker an der Universität war ihm wichtig; er hatte die Möglichkeit, beruflich voranzukommen.
Sollte er darauf verzichten?
In Deutschland würde er sicherlich keine Chance haben, an einer Hochschule oder Universität zu arbeiten. Er sprach kein Deutsch. Als Russe würde es ihm bestimmt nicht leicht fallen, sich in dem ihm fremden Land einzuleben. Die Zeit, die seit der Antragsstellung vergangen war, hatte ihn veranlasst, seine ursprüngliche Zustimmung zurückzunehmen. Was sollte ich tun, bleiben oder ohne ihn weggehen? Tage-, ja wochenlang wusste ich nicht, wie ich mich entscheiden sollte.

Der Antrag zur Übersiedlung kam nicht daher, dass ich aufgrund meiner deutschen Nationalität nun, da es möglich geworden war, unter Deutschen in Deutschland leben wollte. Mir war meine Nationalität bis dahin nicht unwichtig, aber ich maß ihr auch keine größere Bedeutung bei. Meine Eltern waren 1941 aus dem Wolgagebiet nach Kasachstan deportiert worden. Vater musste nicht in die Trudarmee. Wegen einer schweren Handverletzung, die er in seiner Kindheit erlitten hatte, blieb er davon verschont. Als kleines Kind sprach ich zu Hause vor allem Deutsch. Mutter konnte nur wenig und schlecht Russisch. Mit der Schulzeit änderte sich dann allerdings die Priorität. Ich sprach meistens nur noch Russisch, auch zu Hause. Mutter gefiel das nicht. Sie wollte die deutsche Nationalität und die deutsche Sprache stärker bewahren.

In der Schule gehörte ich immer zu den Besten in der Klasse. Meine große Liebe gehörte der russischen Sprache und Literatur. Sehr aktiv beteiligte ich mich an der Zirkelarbeit. Es wurden vielfältige literarische Veranstaltungen organisiert, an denen wir Schüler mitwirkten. Wir trugen Gedichte vor, lasen aus Prosawerken und spielten kleinere Theaterstücke.

Wir Schüler waren bunt gemischt. Die Eltern waren aus vielen Teilen der Sowjetunion nach Kasachstan gekommen. Die Nationalität spielte für uns damals eine vollkommen untergeordnete Rolle. Alle sprachen Russisch. Konflikte aufgrund der Nationalität gab es nicht. Manchmal wurde ich von Mitschülern gefragt, warum ich im Deutschunterricht so gut wäre. Nun ja, sagte ich, das käme daher, weil meine Eltern deutscher Abstammung waren. In einem solchen Kontext wurde ich daran erinnert, sonst hatte die Nationalität für mich damals keine weitere Bedeutung.

Während des Studiums und später bei der Arbeit in Moskau änderte sich daran nichts. Beruflich hatte ich nun allerdings mehr mit Deutschland zu tun. Ich erwarb auch einen Studienabschluss in Deutsch als Fremdsprache und in deutscher Literatur.
Im Zentralinstitut für wissenschaftlich-technische Information gehörte es zu meinen Aufgaben, Übersetzungen aus dem Deutschen ins Russische anzufertigen. Sicherlich wusste ich über Deutschland mehr als über andere Länder. Doch ich konnte mir damals nicht vorstellen, Russland zu verlassen und nach Deutschland überzusiedeln.
Das Bolschoi Theater in Moskau

Mein Interesse und meine ganze Aufmerksamkeit waren auf das kulturelle Leben in Russland gerichtet, vor allem auf die Literatur, das Theater und das Ballett. Durch meine Arbeit in der Redaktion der Zeitschrift "Sowjetisches Ballett" war ich mit der Moskauer Kultur- und Theaterszene eng verbunden. Es gab nur wenige Veranstaltungen und Inszenierungen, die ich nicht besuchte.

Woher kam dann bei mir die Absicht, Moskau und Russland zu verlassen? Meine Mutter - Vater war schon verstorben - und meine Geschwister wollten übersiedeln. Die mit dem Zerfall der Sowjetunion einhergehenden Unsicherheiten und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft in Deutschland waren ihre Hauptmotive. Außerdem spielte die "Sogwirkung" eine Rolle, dass eine immer größere Zahl von Russlanddeutschen das Land zu verlassen begann. Unsere Familienbande waren immer stark gewesen, obwohl ich seit fast 20 Jahren getrennt von meiner Mutter und meinen Geschwistern lebte. Sollte ich mich ausschließen?

Doch der familiäre Druck war nicht der Hauptgrund. Hinzu kam etwas anderes, weshalb ich nachgab. Mein Sohn Thomas war schon seit vielen Jahren krank. Er litt an einer neurologischen Erkrankung, die Depressionen und Angstzustände auslöste. Er hatte mit dem Studium der Chemie begonnen. Aber es wurde immer deutlicher, dass er ohne modernste medizinische Versorgung und Medikamente das Studium nicht durchstehen und eine spätere Arbeit ausüben könnte. Für mich gab es nichts Wichtigeres als ihm zu helfen und jede, auch die kleinste Chance zu nutzen, um vielleicht in Deutschland seine Krankheit heilen zu lassen. Ich habe sehr unter dem Tod meines ersten Mannes, Thomas Vaters, gelitten. Alles für Thomas zu tun - darin sah und sehe ich mein Vermächtnis seinem Vater gegenüber. Das bewog mich, trotz aller Bedenken mit meinem Sohn nach Deutschland zu gehen.

Jetzt lebe ich nun seit knapp acht Jahren in Berlin. Äußerlich geht es mir wie vielen anderen Russlanddeutschen auch: Es war mir bislang nicht möglich, eine feste Arbeit zu bekommen. Ich habe eine vom Arbeitsamt geförderte Fortbildung absolviert. Doch wer wie ich über 50 Jahre alt ist, hat so gut wie keine Chance mehr auf dem Arbeitsmarkt. Das ist bitter. Zur Zeit bin ich in einem ABM-Projekt, das Aussiedler und Emigranten sozial betreut und Deutschkurse durchführt. Die Arbeit ist interessant. Ich kann entsprechend meinen Fähigkeiten etwas leisten. Das stärkt mein Selbstbewusstsein. Und durch diese Arbeit komme ich mit vielen Leuten aus unterschiedlichen Bereichen zusammen. Das wirkt der Gefahr entgegen, sich zu sehr ins Private zurückzuziehen.

Mein Sohn und ich wohnen in einer Wohnung, die wir uns gut eingerichtet haben. Wir können finanziell keine großen Sprünge machen. Doch zum Leben reicht es.

Meinem Sohn konnte hier leider nicht geholfen werden. Sein Gesundheitszustand hat sich nicht wesentlich verbessert. Er hat eine Lehre als chemisch-technischer Assistent begonnen. Nach einem Jahr musste er jedoch die Ausbildung abbrechen. Er ist hochintelligent, besonders in den Naturwissenschaften hat er sich ein erstaunliches Wissen angeeignet. Doch die immer wieder auftretenden Depressionen und Ängste lassen - wenigstens gegenwärtig - eine weitere "normale" Ausbildung nicht zu. All das ist für mich natürlich eine große Belastung. Ich muss für meinen Sohn ständig da sein und ihn umsorgen.

Es ist mir nicht schwer gefallen, in Berlin schnell zurechtzukommen. Ich brauchte an keinem Deutschkurs teilnehmen. Ich habe Deutsch an der Universität studiert und spreche es recht ordentlich. Auch hinsichtlich der anderen Dinge des Sich-Zurechtfindens im Alltagsleben hatte ich keine Probleme. Trotzdem muss ich bekennen, dass es mir nicht gelungen ist, hier in Deutschland und in Berlin tiefere Wurzeln zu schlagen. Ich fühle mich hier nicht zu Hause. Ich vermag eine bestimmte Fremdheit und Distanz nicht zu überwinden.

Die Ursache dafür liegt wohl darin, dass ich viel stärker mit Moskau und dem russischen Leben verwachsen bin, als ich das vor unserer Übersiedlung wusste. Ich vermisse jetzt vor allem das Kulturleben in Moskau, die Leute in diesem Bereich, die ich teilweise kenne. Das ganze Drumherum in dieser Szene fehlt mir sehr. Ich habe Sehnsucht nach meinen Moskauer Freunden und Bekannten. Ich gehe auch in Berlin ins Theater, ins Konzert und in andere Veranstaltungen. Doch es ist für mich kein Ersatz für das Kulturleben in Moskau. In den vergangenen Jahren habe ich immer ein paar Wochen in Moskau geweilt. Ich war bei meinem Mann, ich habe Freunde besucht und das Leben in Moskau wieder neu erlebt. Natürlich hat sich dort inzwischen viel verändert. Zuweilen denke ich bei bestimmten Dingen, dass ich in einer anderen Stadt und einem anderen Land als vor zehn Jahren bin. Meine früheren Kollegen in der Redaktion der Zeitschrift haben mit Schwierigkeiten zu tun, die uns vor 1990 vollkommen fremd waren. Sie kämpfen jeden Monat ums ökonomische Überleben. Früher hatten wir uns nur um die Beiträge für die Zeitschrift zu kümmern, jetzt liegt auch der ganze Absatz in ihren Händen. Die meisten Anstrengungen sind auf den Verkauf der Zeitschrift gerichtet. Ja, das Leben der Stadt und jedes Einzelnen ist in Moskau anders geworden. Ich spüre dort ebenfalls eine gewisse Distanz, ein Gefühl des Nicht-Mehr-Dazugehörens. Doch es ist ein wehmütiges Gefühl, gepaart mit Heimweh.

Vielleicht schlage ich in Berlin deshalb keine tieferen Wurzeln, weil ich von Moskau nicht loskomme. Was soll ich tun? Materiell geht es mir in Deutschland besser als in Russland. Doch der Mensch lebt bekanntlich nicht von Brot allein. Mir ist mein seelisches Gleichgewicht auch wichtig, vielleicht noch wichtiger als das Brot. Soll ich zurückgehen? Meine Mutter und meine Geschwister, die jetzt in Nordrhein-Westfalen leben, raten mir davon ab. Wird meine Ehe nach der langen Zeit des Getrenntseins noch funktionieren und mir den nötigen Halt nach einer Rückkehr geben? Ich werde mich bald entscheiden müssen. Doch wie, dass weiß ich noch nicht.
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