Geschichte der Russlanddeutschen

8 Kulturarchiv

8.2.5 Schicksalswege — Erinnerungen

8.2.5.3.5 Valentina Bosserdt

Der Anstoß, der mich zum Nachdenken veranlasste, war eine kleine Begebenheit. Eines Tages kam mein fünfjähriger Sohn aus dem Kindergarten und forderte mich ängstlich auf: "Mama, sag, dass ich kein Deutscher, sondern wie die anderen Kinder auch Russe bin!" Jemand hatte wohl in seiner Gegenwart verlauten lassen, dass er nicht russischer Nationalität sei. Ich tat mein Möglichstes, um ihn zu beruhigen und ihm seine Ängste zu nehmen. Diese Sache ließ mich dann jedoch nicht mehr los. Ich begann mich zu fragen, was mir die deutsche Nationalität eigentlich bedeutete und in welchem Bewusstsein ich meinen Sohn erziehen sollte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mir darüber keine ernsthaften Gedanken gemacht. Die unterschiedliche Nationalität war mir nicht so wichtig, eine Angelegenheit ohne größere praktische Bedeutung.

Ich wurde 1955 in einem kleinen Dorf im Gebiet von Krasnojarsk geboren. Meine Eltern waren wie die übrigen deutschen Mitbürger unmittelbar nach Beginn des Zweiten Weltkrieges aus dem Wolgagebiet nach Sibirien deportiert geworden. Vater musste in die Trudarmee. Mutter blieb davon verschont, weil mein ältester Bruder damals gerade geboren worden war. Vater war vor dem Krieg im Bauwesen tätig. Nach der Trudarmee arbeitete er in der Forstwirtschaft und in einer Sägemühle. Mutter, Tierärztin von der Ausbildung her, übte ihren Beruf später nicht mehr aus. Sie hatte sich um den Haushalt zu kümmern und für meine beiden Brüder und schließlich für mich zu sorgen. 1959 sind wir in ein größeres Dorf ganz in die Nähe von Krasnojarsk gezogen. Dort lebten wir nicht mehr so abgeschieden. Im Ort gab es eine Schule, Einkaufsgelegenheiten und die Möglichkeit, öfter in die Stadt zu fahren. Die Bevölkerung war gemischt, russische und deutschen Familien. Auch andere Nationalitäten waren vertreten.

Meine Eltern und die Großmutter, die bis 1973 lebte, sprachen untereinander Deutsch, wir Kinder überwiegend Russisch. Abgesehen von der sprachlichen Besonderheit meiner Eltern und der Großmutter gab es noch andere Dinge, die uns von den Russen unterschieden. Bei uns gab es andere Gerichte, wir feierten die Feiertage anders, Ostern und Weihnachten nach deutscher Art. Großmutter erzählte gern von früher, aus der Zeit, als sie noch im Wolgagebiet lebte. Sie kam aus einer gutsituierten Kaufmannsfamilie. Nach der Oktoberrevolution ging es ihr und ihrem Mann nicht mehr so gut. Sie überlegten, nach Deutschland auszuwandern. Doch daraus wurde nichts, weil Großvater 1922 an Typhus verstarb. Doch diese Erzählungen blieben damals ohne größere Wirkung auf mich. Für Deutschland interessierte ich mich nicht mehr als für andere Länder. Die Gegenwart war mir wichtiger als die Vergangenheit.

Meine Eltern sprachen nicht gut Russisch. Besonders während der Schulzeit bei Elternversammlungen und anderen Veranstaltungen, wo sie öffentlich etwas sagen mussten, empfand ich ihr Anderssein als unangenehm. Unbehagen löste bei mir auch immer aus, wenn in der Öffentlichkeit und in den vielen Filmen über den Krieg im Kino und Fernsehen die Deutschen allgemein als die Bösen dargestellt wurden. Ich wusste, dassAuf dem Flugplatz in Krosnojarsk unsere Familie und die anderen Russlanddeutschen keine Schuld auf sich geladen hatten. Ich wurde niemals direkt von Leuten als Deutsche beschimpft. Dennoch traf mich diese generelle Schuldzuweisung irgendwie.
flugplatz

Einmal war ich zum "Tag des Sieges" zu Gast bei der Familie einer Klassenkameradin. Ihr Vater, der fast den ganzen Krieg über an der Front gekämpft hatte, erzählte über diese schreckliche Zeit. Nach seiner Erzählung schaute er mich an. Ihm wurde bewusst, dass ich aus einer deutschen Familie kam. Er entschuldigte sich. Er hatte allgemein von den Deutschen und nicht von den Faschisten als den Verantwortlichen gesprochen, die so viel Leid ins Land gebracht hatten. Er wollte meine Gefühle nicht verletzen. Die Entschuldigung, von einem Erwachsenen ausgesprochen, imponierte mir. Doch gleichzeitig blieb in mir doch ein diffuses Schuldgefühl haften, das mit der deutschen Herkunft meiner Eltern zu tun hatte.

Später nach der Schulzeit verloren die Nationalität und die damit verbundenen Probleme bei mir zunächst an Bedeutung. Von 1972 bis 1977 erlernte ich in Krasnojarsk den Beruf einer Facharbeiterin im Wetterdienst. Nach der Lehrzeit studierte ich im Fernstudium Meteorologie an der Universität von Taschkent. Dort lernte ich meinen Mann, einen Russen, kennen. Von 1977 bis 1982 arbeitete ich beim Wetterdienst in der usbekischen Hauptstadt. Dort wurde mein Sohn Andrej geboren.

Nach dem Scheitern der Ehe ging ich mit meinem Sohn wieder zurück nach Krasnojarsk. Wir wohnten bei den Eltern auf dem Dorf. Bis zur Arbeit auf dem Flugplatz war es nicht weit, nur etwa sieben Kilometer. Die 40 Kollegen, mit denen ich zusammenarbeitete, waren bis auf wenige Ausnahmen Russen. Ich fühlte kaum noch dieses Anderssein von früher. In meinem Denken und Fühlen überwog die russisch geprägte Umwelt. Die deutsche Nationalität stand im Ausweis. Sie bezeichnete vor allem meine Abstammung. Mehr verband ich damals damit nicht.

Die Begebenheit mit meinem Sohn änderte jedoch meine Einstellung. Nicht abrupt, von einem Tag auf den anderen. Doch sie war der Ausgangspunkt für eine sich verändernde Sichtweise. Es wurden alte, schon längst vergessen geglaubte Erinnerungen wieder wach. Ich begann mir ernsthafter die Frage zu stellen: "Wo liegen meine Wurzeln? Was bin ich, mehr Russin oder mehr Deutsche?" Plötzlich interessierte ich mich für die Vergangenheit meiner Eltern. Ich fragte sie nach ihrer Kindheit im Wolgagebiet, nach den Erlebnissen bei der Deportation, nach Vaters Zeit in der Trudarmee und während der Kommandantur. Darüber hinaus besorgte ich mir Literatur über die Geschichte und Kultur der deutschen Siedler in Russland und der deutschen Bevölkerung in den verschiedenen Teilen der Sowjetunion. Es eröffnete sich mir eine bis dahin verborgene und unbekannte Welt. Mir wurde klar, dass Nationalität auch für mich viel mehr ist als eine bloße Eintragung im Ausweis. Sicherlich auch durch meine familiäre Situation als allein erziehende Mutter bedingt, suchte ich nun in meiner Nationalität etwas, was mir größeren Halt und Selbstbewusstsein geben würde.

1986 bin ich ins Wolgagebiet gereist. Dort lebten noch Verwandte von uns. Ich schaute mir die Orte im Gebiet von Saratow an, wo einmal meine Eltern und Großeltern zu Hause waren. Könnte in diese Gebiete die während des Krieges deportierte deutsche Bevölkerung bzw. deren Nachkommen wieder zurückkehren und ein neues Leben entsprechend ihren kulturellen Werten aufbauen? Ich hielt das nicht für unmöglich. Die Perestroika hatte gerade erst begonnen. Die Zeit von Veränderungen war angebrochen.

Starken Einfluss übten auf mich auch die Gespräche mit einem Piloten aus, den ich bei meiner Arbeit auf dem Flugplatz von Krasnojarsk kennenlernte. Er war ebenfalls deutscher Nationalität. Seine Eltern lebten schon vor der Wende in der Bundesrepublik Deutschland. Er überzeugte mich, dass Bestrebungen, die Vergangenheit in Gestalt einer Deutschen Wolgarepublik oder eines autonomen deutschen Gebietes zurückzuholen, nicht realistisch waren. Im Wolgagebiet und anderswo, wo einmal deutsche Siedlungsgebiete waren, lebte inzwischen eine russische oder ukrainische Bevölkerung. Sollte man sie aussiedeln? Das würde weiteres Unrecht und neuen Unfrieden bringen.

Eine Möglichkeit, vielleicht die wirksamste, die deutsche Nationalität zu bewahren, so meinte mein Bekannter, wäre eine Übersiedlung nach Deutschland. Er wies mich darauf hin, dass es mit dem Umbruch in der Sowjetunion sicherlich möglich werde, diesen Weg zu gehen. Relativ schnell entschloss ich mich dann, als es so weit war, den Antrag auf die Übersiedlung nach Deutschland zu stellen.

Ich tat es vor allem, weil ich meinte, dass mein Sohn in Deutschland die besten Möglichkeiten für die Gestaltung seines Lebens besitzt. Vor allem in der beruflichen Ausbildung sollten ihm alle Wege offen stehen. Und ich wollte ihm mögliche Schuldgefühle ersparen, die ich aufgrund der deutschen Nationalität in meiner Kindheit zuweilen empfunden hatte. Keine Illusionen hatte ich hinsichtlich meiner beruflichen Perspektive. Der befreundete Pilot kannte aus der Sicht seiner Eltern die Situation in Deutschland ein bisschen. In den Gesprächen mit ihm wurde mir klar, dass ich als Meteorologin keine Arbeit bekommen würde und darauf gefasst sein müsste, Arbeiten weit unter meiner Qualifikation zu verrichten. Das schreckte mich aber nicht ab. Ich hing nicht mehr so fest an der Arbeit im Wetterdienst auf dem Flughafen in Krasnojarsk. Der ständige Drei-Schicht-Dienst und die Aufgaben zu Hause bei der Betreuung der Eltern hatten mich müde gemacht. Ich hatte den festen Willen, ein neues Leben aufzubauen. Einerseits spürte ich die Müdigkeit und innere Unzufriedenheit, andererseits vertraute ich auf meine Kraft für einen Neuanfang. Ich wusste, daß ich in Deutschland wieder ganz von vorn anzufangen hätte.

Meine Eltern waren gegen eine Übersiedlung. Erst als Mutter verstarb ließ sich Vater überreden, doch mit uns auszureisen. Seit Dezember 1993 leben wir in Berlin - Vater, mein Sohn und ich. Meine Brüder sind mit ihren Familien in Russland geblieben.

Ich war sehr motiviert, möglichst schnell in Berlin Fuß zu fassen. Nach der Erledigung der üblichen Formalitäten, die bei der Übersiedlung zu bewältigen waren, besuchte ich einen sechsmonatigen Sprachkurs. Wie gesagt, Deutsch konnte ich ein wenig von meinen Eltern. Deutsch hatte ich als Fremdsprache in der Schule und an der Universität gelernt. Und als ich mich entschloss, nach Deutschland überzusiedeln, war ich bestrebt, mich darauf auch sprachlich vorzubereiten. Im Sprachkurs musste ich jedoch feststellen, dass meine Kenntnisse wie auch die der anderen Teilnehmer weit hinter den praktischen Erfordernissen in Deutschland zurückblieben. Es haperte vor allem bei der Aussprache und bei den Kenntnissen in der täglichen Umgangssprache. In Russland hatte ich von den Eltern Deutsch in einem Dialekt gehört, hier war Hochdeutsch gefragt. Ich hatte mit diesen Schwierigkeiten nicht gerechnet. Hinzu kam, dass die junge Lehrerin kein Verständnis für uns aufbrachte.
v. bosserdt als betreuerin einer seniorengruppe

Sie hatte keine Ahnung von der Geschichte der Russlanddeutschen und wollte sich damit auch nicht befassen. Fast mit Genugtuung wies sie immer wieder auf unsere Fehler hin. Auch was unsere kulturellen Bräuche und Gewohnheiten anbetraf, hatte sie meistens nur die Bemerkung übrig, dass das mit dem Leben hier in Deutschland wenig zu tun habe. Aus ihren Äußerungen entnahm ich, dass ich als Russlanddeutsche eigentlich nicht hierher gehöre und eine Ausländerin, ja eine Fremde sei. Und ich spürte, dass dies nicht nur die Meinung dieser Lehrerin war, sondern sich darin auch die Meinung von vielen Einheimischen widerspiegelte. Wir Russlanddeutschen sind hier also nicht willkommen, sagte ich mir. Das hatte ich nicht erwartet. Ich glaubte, man würde uns entgegenkommend empfangen. Eine tiefe Enttäuschung breitete sich in mir aus. In Russland waren wir die ungeliebten Deutschen. Und hier in Deutschland sind wir in den Augen vieler die Russen, die man nicht gern sieht. Als mir bewusst wurde, dass ich meine Situation nicht ändern kann und sprachlich wohl immer schnell auf das Vorurteil stoßen werde, keine richtige Deutsche zu sein, schockierte mich das zutiefst. Es bereitete mir eine Zeit lang große Mühe, überhaupt noch Deutsch zu sprechen. Nur mit großer Mühe habe ich den Kurs beendet.

Glücklicherweise fand ich etwas Halt im Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche in meinem Stadtbezirk. In der dortigen Kontakt- und Beratungsstelle für Aussiedler war es vor allem der Leiter, der mich wieder aufrichtete und mir Mut machte.

Von Oktober 1994 bis Dezember 1995 besuchte ich einen Weiterbildungskurs zur Unternehmens- und Rechnungsführung sowie zum Controlling. Dort habe ich sehr viel gelernt. Und es machte mir Spaß, ein für mich bis dahin vollkommen neues Fachgebiet kennen zu lernen und mich darin mit den neuesten Methoden der Arbeit vertraut zu machen. Auch die Arbeit mit dem Computer gefiel mir. Zu diesem Weiterbildungskurs gehörte ein Praktikum in einem Betrieb. Dort konnte ich zeigen, dass ich in der Lage war, das Gelernte effektiv in die Praxis umzusetzen.

Das stellte mein Selbstbewusstsein wieder her. Für eine Tätigkeit in der Wirtschaft oder Verwaltung fühlte ich mich gut gerüstet. Ich war voller Zuversicht, eine Arbeitsstelle zu bekommen. Bei vielen Unternehmen habe ich mich beworben und vorgestellt. Doch der Erfolg blieb aus. "Mit Bedauern müssen wir Ihnen mitteilen, dass ..." - diese Worte musste ich immer wieder in den Antwortschreiben auf meine Bewerbungen lesen. Woran lag es? Nahmen sie mich nicht, weil sie an meiner Sprache merkten, dass ich Russlanddeutsche bin? Gab es andere Gründe? Habe ich mich nicht richtig beworben? Diesen Fragen konnte ich nicht ausweichen. Erneut war ich ziemlich deprimiert.

Nach Monaten erfolgloser Bewerbungen habe ich dann im Diakonischen Werk noch an einem Bewerbungstraining teilgenommen. Auch das brachte mir nichts. Ich habe keine Stelle gefunden, wo ich das im Weiterbildungskurs Gelernte anwenden konnte. Um nicht jeglichen Kontakt zur Arbeitswelt zu verlieren, habe ich dann ein halbes Jahr aushilfsweiseV. Bosserdt mit Lebensgefährten in Rom als Reinigungsfrau in einer KITA gearbeitet.
v. bosserdt als betreuerin einer seniorengruppe

Meine Hoffnung, dort länger bleiben zu dürfen, zerschlug sich. 1998 leistete ich freiwillige Sozialarbeit im Diakonischen Werk. Ich wollte nicht untätig sein. Und außerdem war es mir wichtig, anderen Russlanddeutschen bei der Eingliederung zu helfen. Seit Februar 1999 arbeite ich in der Kontakt- und Beratungsstelle für Aussiedler. Diese vom Sozialamt getragene Stelle ist auf zwei Jahre befristet.

Wie gesagt, ich wusste, dass es schwierig sein würde, eine feste Arbeitsstelle zu bekommen. Dass es aber so schwer sein würde, das habe ich nicht vorhergesehen. Neben dem Problem der Arbeit gibt es noch eine andere große Schwierigkeit, die ich nicht erahnt habe. Um in Deutschland wirklich heimisch zu werden, ist es auch wichtig, innerlich anzukommen. Es ist nicht einfach, Außenstehenden zu erklären, was ich damit meine. Meine Kollegen hier im Diakonischen Werk und in der Beratungsstelle sind alle nett und freundlich zu mir. Wir unterstützen uns gegenseitig in der Arbeit. Wenn es in Gesprächen jedoch über die unmittelbare Arbeit hinausgeht, kann ich oft nicht mehr mitreden.

Sie sprechen mit großer Selbstverständlichkeit über Schauspieler und Moderatoren im Fernsehen, über Leute und deren Geschichten, die sie seit langem kennen. Es genügen Andeutungen und alle wissen sofort Bescheid, was sich dahinter verbirgt. Nur ich verstehe es nicht, weil ich die Leute zum Teil überhaupt nicht kenne und, wenn ich sie kenne, nichts oder nur wenig über Hintergründe weiß. Ähnlich ist es, wenn über Themen in Politik und Kultur gesprochen wird. Ich sitze nur daneben und fühle mich nicht so richtig dazugehörig. In den vergangenen Jahren habe ich viel getan, um die kulturelle und politische Landschaft in Deutschland kennenzulernen. Ich besuchte Museen, Konzerte und Veranstaltungen. Doch ich verspüre nach wie vor das Defizit. Es läßt sich sicherlich nicht in kurzer Zeit beseitigen. Ich weiß das. Dennoch ist es mir peinlich, wenn ich nicht mitreden kann. Ich fühle mich gehemmt und unwohl. Die Einheimischen spüren diese Unsicherheit bei mir und wissen dann auch nicht so recht, worüber sie mit mir reden sollen. Für engere Kontakte fehlen gemeinsame Anknüpfungspunkte. Sich äußerlich zu integrieren ist nicht so schwer. Relativ schnell ist zu lernen, dass man z. B. Kaffee statt Tee trinkt, wie man einen Computer und andere moderne technische Geräte benutzt, die man bislang nicht kannte. Doch die "innere Integration" ist weit schwieriger. Hinzu kommt, dass in der Marktwirtschaft andere Werte herrschen und von dem Einzelnen andere Verhaltensweisen und viel mehr Durchsetzungsvermögen verlangt werden. Das ist ein schmerzhafter Lernprozess. Die Neuorientierung erfordert viel Zeit und Geduld. Und es ist viel gegenseitiges Verständnis erforderlich, von uns Aussiedlern, aber auch von den Einheimischen.

Aus meiner täglichen Arbeit in der Kontakt- und Beratungsstelle weiß ich, dass die meisten Aussiedler mit dem inneren Ankommen am schwersten zu kämpfen haben. Viele schaffen es nicht. Sie resignieren und ziehen sich zurück. Sie geben die Anstrengungen zur Integration auf und pflegen engere Kontakte nur noch mit ihresgleichen, anderen Russlanddeutschen. Den Mangel, nicht dazuzugehören, spüren sie dann nicht mehr. Ich verurteile das nicht. Nicht alle bringen die Kraft auf. Das habe ich sehr gut an einem Bekannten gesehen. Er ist auch mit seiner Familie nach Deutschland gekommen. Obwohl er aus mehreren Besuchen wusste, was ihn erwartete, hat er es nicht geschafft. Er konnte den beruflichen Abstieg einfach nicht verkraften. Vernunft und Gefühl liefen bei ihm auseinander. Deutschland ist ihm fremd geblieben. So ist er nach Krasnojarsk zurückgekehrt.
auf dem kurfürstendamm in berlin
Doch ich kenne auch viele positive Beispiele. Besonders jüngeren Leuten fällt es leichter, sich einzugliedern und innerlich wohl zu fühlen. Mein Sohn hat in kurzer Zeit sehr gut Deutsch gelernt. Er spricht ohne Akzent. Es ist kaum zu merken, dass er nicht in Berlin aufgewachsen ist. Mit Erfolg hat er die Schule absolviert. Er wird nach dem Wehrdienst eine Ausbildung als Kommunikationselektroniker absolvieren, also den Beruf erlernen, den er sich wünscht. Ich bin froh, dass alles so reibungslos abläuft. Das, was ich beim Weggang von Russland für ihn erhofft habe, ist eingetreten. In der Freude über ihn gibt es allerdings auch einen Wermutstropfen. Die Probleme des inneren Ankommens, die ich im Verhältnis zu meinen Kollegen und den Einheimischen spüre, treten auch in der Beziehung zu meinem Sohn in Erscheinung. Er spricht über die Dinge des Alltags, über Sport, Politik und Kultur hier in Deutschland wie selbstverständlich, ohne das geringste Anzeichen von Fremdheit. In Russland kannte auch ich zum Beispiel die wichtigsten Fußballspieler mit Namen und war mit dem Spielgeschehen einigermaßen vertraut.

Jetzt ist Andrej zuweilen ungeduldig mit mir, wenn ich mir wieder nicht einmal den Namen eines Hertha-Spielers merken kann. Ähnlich ist es bei anderen Themen. Mitreden zu können, einen gemeinsamen Wissensstand zu vielen Themen auch in der Familie zu besitzen sind in meinem Verständnis wichtig. Oft beobachte ich, dass sich in Aussiedlerfamilien die Eltern und Kinder sehr schnell auseinanderleben und sich nicht mehr viel zu sagen haben. Ich will das vermeiden. Deshalb spüre ich auch im familiären Bereich dieses Anderssein von mir als schmerzhaft. Und deshalb strenge ich mich an, um wenigstens auf bestimmten Gebieten auf dem Laufenden zu sein. Die Namen der Hertha-Spieler stehen auf einem Zettel in der Küche. Ich will sie mir einprägen.

Manchmal werde ich gefragt, ob ich nicht zu viel will und zu ungeduldig bin. Ich bin knapp sieben Jahre hier, da kann man sicherlich nicht erwarten, dass die Fremdheit völlig verschwunden ist und man äußerlich wie innerlich in den meisten Dingen schon heimisch geworden ist. Mein Verstand sieht das auch so. Doch meine Seele leidet weiter. - Trotz aller Probleme, von denen ich hier einige angesprochen habe, bin ich doch von der Tendenz her letztlich zuversichtlich. Ich werde es schon schaffen. Wichtig erscheint mir vor allem, doch noch einen festen Arbeitsplatz zu bekommen. In dem Maße, wie ich in der Arbeit Anerkennung finde, werden sich wohl dann auch die anderen Dinge schrittweise regeln. Und ich werde mich, so hoffe ich, auch seelisch wieder wohler fühlen.
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