Geschichte der Russlanddeutschen

8 Kulturarchiv

8.2.5 Schicksalswege — Erinnerungen

8.2.5.3.18 Viktor Ring

viktor ring
Mit meiner Familie bin ich seit 1993 in Deutschland. Wenn ich zurückblicke, erscheint mir diese Zeit sehr schnell vergangen zu sein. Sie war angefüllt nicht nur mit großen Veränderungen in unserem Leben, sondern gleichzeitig auch mit ungeheuer viel Arbeit. Wir mussten uns schnell in einem Land zurechtfinden, das uns bis dahin weitgehend unbekannt war. Für Nichtbetroffene ist es immer schwer sich vorzustellen, was da alles an Neuem auf Übersiedler zukommt. Es ist ein völliger Neuanfang, den man vor allem psychisch zu verkraften hat. Und organisatorisch ist eine Menge zu erledigen, die vielen Formalitäten, der Gang zu den Behörden, die Wohnungs- und Arbeitssuche. Das verlangt viel Kraft und zerrt zuweilen auch ganz schön an den Nerven. Doch die Anstrengungen haben sich gelohnt. Heute kann ich sagen, dass wir, meine Familie und ich, in relativ kurzer Zeit unseren Platz in Deutschland gefunden haben und hier mitten im Leben stehen.

Dieser tiefe Einschnitt in meinem Leben zwingt mich, in erster Linie nach vorn zu blicken und die täglichen Probleme zu bewältigen. Doch gerade in dieser angespannten Zeit denke ich auch häufig über das Vergangene, über das Leben meiner Eltern und über meine Zeit in Russland und Kasachstan nach. Ich frage heute mehr als früher nach meinen Wurzeln. Offenbar bedingt das eine das andere: raschere Veränderungen gehen wohl sehr oft mit Rückbesinnung auf Vergangenes einher. Einiges ist mir ganz nah, als wäre es erst gestern geschehen. Zu anderem habe ich bereits eine wachsende Distanz. Es gehört einer vergangenen, mir schon fremd gewordenen Welt an.

Meine Eltern stammen aus dem Wolgagebiet. Vater wurde 1911 in Wiesenmüller und Mutter 1918 in Moor geboren. 1935 haben sie geheiratet. Vater hat bis zur Deportation der Wolgadeutschen bei der Eisenbahn gearbeitet. Sie, mein Vater, meine Mutter und meine drei älteren Geschwister, wurden im September 1941 ins Gebiet von Krasnojarsk deportiert. Vater musste dann gleich nach einigen Wochen zur Trudarmee.

Das Arbeitslager befand sich in der Nähe von Krasnoturinsk. Dort wurde ein großes Aluminiumwerk gebaut. Als Arbeitskräfte wurden vor allem Russlanddeutsche und deutsche Kriegsgefangene eingesetzt. Die Arbeit war sehr schwer. Vater hat uns Kindern später häufig darüber erzählt. Im Gegensatz zu vielen anderen hat er diese schwierige Zeit überlebt. Mutter musste nicht in die Trudarmee, weil die Kinder noch klein waren. Aber auch sie hatte es nicht leicht: die schwere körperliche Arbeit auf dem Kolchos und die Anfeindungen durch die russischen Dorfbewohner. Sie sprach kein Russisch. Es gab wenig Nahrungsmittel. Oft wusste sie nicht, wie sie die Kinder und sich durchbringen sollte.

Vater hat nach Kriegsende die Genehmigung erhalten, dass im Januar 1946 seine Frau und die Kinder zu ihm nach Krasnoturinsk kommen konnten. Im November des gleichen Jahres wurde ich geboren. Knapp einen Monat nach meiner Geburt wurde das Arbeitslager aufgelöst. Meine Eltern durften mit uns Kindern ins Altai-Gebiet gehen. Dort lebten Verwandte von Vaters Seite her. Ich bin in einem größeren Dorf aufgewachsen. Als Kreisort hatte es später dann etwa 12 000 Einwohner. Vater arbeitete zunächst einige Jahre als Verkäufer in einem Lebensmittelgeschäft. Später war er dann bis zu seiner Pensionierung als Leiter eines kleinen Betriebes tätig, in dem Baumaterialien für den Kolchos produziert wurden. Nach mir wurden noch drei weitere Geschwister geboren. Mutter hatte uns Kinder zu versorgen. Sie konnte erst später, als wir schon älter waren, einer Arbeit nachgehen.

In diesem Dorf im Altai-Gebiet habe ich bis 1961 gelebt. Das Verhältnis zwischen den Russen und uns, den Russlanddeutschen, war besonders in dem Nachkriegsjahrzehnt sehr gespannt. Die Wunden waren tief. Die meisten russischen Familien hatten Angehörige im Krieg verloren. Pauschal wurden auch die Russlanddeutschen dafür mitverantwortlich gemacht. Ich habe das persönlich immer wieder in der Schule gespürt. Wir wurden als die "Fritzen" und die "deutschen Faschisten" beschimpft und angefeindet. Es kam zu Schlägereien. Wir deutschen Kinder und Jugendlichen hatten es schwer, uns durchzusetzen und Respekt zu gewinnen. Auch unsere Eltern hielten ihr "Deutschsein" zurück. Sie sprachen Deutsch nur zu Hause, nicht in der Öffentlichkeit und waren so bemüht, Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen.

In dieser Situation habe ich schon sehr früh wahrgenommen, dass die Nationalität nicht nur mit bestimmten Traditionen - mit der Sprache oder der besonderen Art, Feste zu feiern - zu tun hat, sondern auch mit der politischen Vergangenheit und Gegenwart verknüpft ist. Auch später, als ich in Kasachstan lebte, es diese Probleme im Zusammenleben nicht mehr gab und die Benachteiligungen der Russlanddeutschen mehr und mehr verschwanden, war ich mir immer meiner Nationalität bewusst.

Das hinderte mich allerdings nicht daran, mit Russen, Kasachen und Vertretern anderer Nationalitäten enge und freundschaftliche Kontakte zu pflegen. Ich habe eine große Hochachtung gegenüber dem russischen Volk. Seine Kultur hat mich mitgeprägt. Daran gibt es keinen Zweifel. Auch jetzt, wo meine Familienmitglieder und ich deutsche Staatsbürger sind und in Berlin leben, verbinden uns noch sehr viele Erinnerungen, gute wie schlechte, mit Russland und Kasachstan. Die Nationalität ist wichtig, doch man sollte sie meines Erachtens aber auch nicht überbewerten.

Nach der Beendigung der Schule habe ich begonnen, in einem Technikum Topografie zu studieren. Meine Vorstellungen hinsichtlich des Studiums erfüllten sich nicht. Ich habe dann nach zwei Jahren das Studium abgebrochen. Von 1965 bis 1970 leistete ich meinen Armeedienst ab. Ich verpflichtete mich eineinhalb Jahre länger zu dienen. Man hatte nichts dagegen, dass ich als Angehöriger der deutschen Nationalität in einem Bereich im hohen Norden eingesetzt wurde, der sicherheitspolitisch durchaus brisant war bzw. als solcher ausgegeben wurde. Während dieser Zeit als Soldat machte ich ein Fernstudium auf dem Gebiet der Elektrotechnik in Krasnojarsk.

Nach dem Armeedienst bin ich 1970 nach Tscherbakty in Kasachstan gegangen und habe in einem Energieversorgungsunternehmen zuerst als einfacher Techniker und später als Abteilungsleiter gearbeitet. Für mich war es wichtig, eine gute Arbeit zu leisten und mitzuhelfen, dass es im Betrieb und im gesellschaftlichen Leben im Allgemeinen voranging. Ich war immer bestrebt, mich auch beruflich fortzubilden. 1975 habe ich das Fernstudium als Elektroingenieur abgeschlossen. Als Abteilungsleiter hatte ich auch sehr viel mit betriebswirtschaftlichen Problemen zu tun. Deshalb nutzte ich die Möglichkeit, von 1977 bis 1981 noch ein Hochschulstudium zum Diplom-Ökonomen zu absolvieren.

Meine Frau habe ich 1971 geheiratet. Sie arbeitete als Buchhalterin. Unsere beiden Töchter wurden 1972 und 1979 geboren.

Aufgrund meiner fachlichen Kompetenz wurde mir 1984 angeboten, in den Verband der Konsumgenossenschaften einzutreten. Zu diesem Verband gehörten neun Konsumgenossenschaften mit insgesamt 19 Betrieben. Es wurden Produkte des täglichen Bedarfs von Lebensmitteln bis zu Textilien und Haushaltswaren hergestellt und mittels eines ziemlich umfangreichen Groß- und Einzelhandels vertrieben. Zunächst arbeitete ich dort als stellvertretender Vorsitzender und nach einem Jahr wurde ich zum Vorsitzenden des Verbandes gewählt. Mein beruflicher Weg zeigt, dass spätestens in den 80er Jahren für uns Russlanddeutsche auch der Weg in viele höhere Leitungspositionen offen war. Wenigstens in Kasachstan war es so.

In anderen Teilen der Sowjetunion gab es da wohl, wie ich weiß, mancherorts noch länger Vorbehalte. Bei uns in Tscherbakty zählten sehr stark das Engagement und das Können des Einzelnen. In zahlreichen Kolchosen und Unternehmen wurden Russlanddeutschen Leitungsaufgaben übertragen.

Das Auseinanderfallen der Sowjetunion und die Unabhängigkeit Kasachstans öffneten dem Verband der Konsumgenossenschaften zunächst größere Geschäftsmöglichkeiten. Die Eigenständigkeit des Verbandes wurde gestärkt. Wir konnten freier von staatlicher Bevormundung wirtschaften. Der Verband wurde in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Diese Freiheit dauerte jedoch nicht lange. Der kasachische Staat engte bereits nach kurzer Zeit die neuen Spielräume wieder ein. In unserem Verband waren 60 Prozent der Mitarbeiter Russlanddeutsche. Von kasachischer Seite war man an einem solchen Unternehmen nicht interessiert. Wir wurden durch entsprechende Verordnungen mehr oder weniger gezwungen, unsere Aktien an den Staat bzw. an Kasachen zu verkaufen.

Hatten wir Russlanddeutsche überhaupt noch eine Perspektive in Kasachstan? Ich stand immer noch an der Spitze des Verbandes. Aber wie lange noch? Ich bemühte mich, die neue Situation realistisch und nüchtern einzuschätzen. Das kasachische Nationalitätsgefühl blühte auf. Nationalistische Tendenzen waren nicht zu übersehen. Immer mehr Nichtkasachen wurden in den Unternehmen durch Kasachen ersetzt. Wir wurden nicht angefeindet oder offen diskriminiert. Nein, so weit ging es nicht. Doch mehr oder weniger offen gab man den Russen, den Deutschen und den anderen Nationalitäten zu verstehen, dass wir nun nur noch als Gäste im Land betrachtet wurden und in erster Linie die Kasachen das Sagen hätten. Auch wirtschaftlich ging es bergab. Die Zerrüttung des Wirtschaftssystems wirkte sich in wachsendem Maße auf das tägliche Leben aus. Als Fachmann wusste ich, wie tief die Krise war und wie schwer es sein würde, eine eigenständige, gut funktionierende Wirtschaft aufzubauen. Ich kam zu dem Schluss, dass es für mich und meine Familie in Tscherbakty und in Kasachstan keine Perspektive mehr gab. Ich sah für uns nur zwei Möglichkeiten: entweder irgendwo nach Russland zu gehen oder nach Deutschland überzusiedeln. Wir entschieden uns für Deutschland. Ich wusste, dass es dort für uns auch nicht leicht sein würde, eine neue Existenz aufzubauen. Doch ich vertraute letztlich auf mein Durchsetzungsvermögen und meine Fähigkeiten als erfahrener Wirtschaftsfachmann.

Im Mai 1993 bin ich mit meiner Frau und unseren beiden Töchtern nach Deutschland gekommen. Nach Beendigung des Deutschkurses war ich sofort bestrebt, beruflich Fuß zu fassen. Meine Pläne zielten darauf ab, mich selbstständig zu machen. Ich kannte viele Geschäftsleute in Kasachstan und Russland und die Verhältnisse dort und war mittlerweile mit der Wirtschaft in Deutschland ein bisschen vertraut. Ich wollte ein Unternehmen gründen, das als Dienstleister für größere Unternehmen im Export- und Importgeschäft tätig sein sollte. Leider hatte ich damit keinen Erfolg und musste nach knapp einem Jahr den Versuch aufgeben. Es lag zum einen daran, dass ich hier in Berlin wenig Unterstützung fand. Es war nicht möglich, von Banken die erforderlichen Kredite zu bekommen. Zum anderen musste ich zur Kenntnis nehmen, dass sich die wirtschaftliche Situation in Kasachstan und Russland sehr schnell verändert hatte.
der springpfuhl in berlin-marzahn
Leitende Leute in den Betrieben, die ich kannte, waren zum großen Teil nicht mehr in ihren Positionen. Es hatten sich neue Unternehmensstrukturen herausgebildet. Mein besonderes Know-how, auf das ich gesetzt hatte, war also schon nach kurzer Zeit nicht mehr aktuell. Ich konnte es nur noch bedingt für mein Unternehmen nutzen. Der Misserfolg war bitter. Ich hatte sehr viel Arbeit und Energie dafür eingesetzt. Doch nicht nur das schmerzte. Hinzu kam, dass damit auch immer eine persönliche Enttäuschung verbunden ist. Man sieht ein solches Scheitern auch als persönliche Niederlage an. Und das bleibt wiederum nicht ohne Folgen fürs Selbstbewusstsein.

Ich gehöre nicht zu denen, die sich schnell entmutigen lassen. Wenn etwas nicht klappt, muss man fragen, was die Ursachen waren und wie man es beim nächsten Mal besser machen kann. Im Dezember 1995 habe ich mit zehn weiteren Russlanddeutschen eine "Selbsthilfegruppe" gegründet. Unser Ziel war es, unsere Erfahrungen und das Wissen über die Möglichkeiten und Bedingungen für Existenzgründungen durch Russlanddeutsche in Berlin zusammenzutragen, um es für uns und andere nutzbar zu machen. Nicht jeder Neuankömmling sollte von Null anfangen müssen, sondern bereits auf vorhandene Erfahrungen zurückgreifen können. Wir machten uns auf vielen Gebieten sachkundig und trugen eine Menge Material zusammen: rechtliche Regelungen und Modalitäten verschiedener Förderprogramme. Wir erarbeiteten speziell für unsere Situation als Russlanddeutsche notwendige Arbeitsschritte zum Aufbau einer beruflichen Existenz. Dabei suchten wir natürlich auch den Kontakt mit Arbeitsämtern und mit Berufsverbänden. Wir haben viele Russlanddeutsche, die nicht zu unserer Gruppe gehörten, informiert und beraten. Zum Ergebnis unserer Tätigkeit ist zu zählen, dass wir zwei Existenzgründungen erfolgreich auf den Weg gebracht haben und von uns elf Mitgliedern der "Selbsthilfegruppe" heute alle einen Arbeitsplatz gefunden haben.

Ich arbeite seit 1999 in der Geschäftsstelle eines Vereins, der mit Kindern und Jugendlichen arbeitet. Die EDV und die Buchhaltung sind mein Aufgabengebiet.

auf dem 5. lichtenberger aussiedlertag, berlin, 1999

Daneben gebe ich Computer-Unterricht. Meine Frau ist im Büro einer Unternehmensberatung tätig. Unsere ältere Tochter, die in Kasachstan ein Lehrer-Studium für Russisch und Literatur abbrechen musste, wird demnächst ihr Studium der Betriebswirtschaft abschließen. Unsere jüngere Tochter hat in Berlin das Abitur gemacht und studiert jetzt an der Wirtschaftsfachhochschule Management und Public Relations.

Neben meiner Arbeit in der Geschäftsstelle des Vereins bin ich seit über vier Jahren ehrenamtlich im Projekt "ZusammenLeben" der Evangelischen Kirche Marzahn Nord tätig. In diesem Projekt gelingt es seit Jahren sehr erfolgreich, durch eine Vielzahl von Arbeitskreisen und Veranstaltungen Übersiedlern und Einheimischen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen und die Kommunikation untereinander zu fördern. Mir ist die Leitung der Computerkurse übertragen worden.

Die Arbeit in diesem Projekt liegt mir sehr am Herzen. Ich möchte auch in Zukunft mithelfen, dass das Verständnis zwischen Einheimischen und Hinzugekommen sich verbessert und die Russlanddeutschen motiviert werden, sich das nötige Wissen und Können für die Neugestaltung ihres Lebens in Deutschland anzueignen. Das Erkennen der eigenen Möglichkeiten und die eigene Aktivität der Übersiedler - das halte ich für unerläßlich, um hier zurechtzukommen.

Zuweilen bin ich Zeuge von Diskussionen darüber, was zur Integration eigentlich alles gehört. Es gibt da manche akademische Fragestellung. Sollten die Russlanddeutschen noch Russisch sprechen? In welchem Maße ist es wünschenswert, russische Traditionen zu pflegen und eigene Veranstaltungen durchzuführen? Die Antworten auf solche Fragen können dann auch nur akademisch sein. Für mein Verständnis ist etwas anderes ausschlaggebend: Jeder von uns, der hier auch beruflich mit dem Leben in zunehmendem Maße zurechtkommt, ist auf dem besten Wege, sich zu integrieren. Ob jemand da noch Akzent spricht oder vorwiegend mit seinesgleichen Umgang hat, ist meines Erachtens zweitrangig.

Bei mir ist beruflich nicht alles so gelaufen, wie ich mir das persönlich vorgestellt hatte. Dennoch sind wir, meine Familie und ich, mit realistischem Blick auf die Gegebenheiten nicht unzufrieden. Wir kommen ganz gut zurecht, auch wenn es eine Menge von Problemen gibt. Aber wo gibt es die nicht?
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