8 Kulturarchiv
8.2.5 Schicksalswege
8.2.5.2 Vorwort zum Buch
Vor Ihnen, lieber Leser, liegt die Broschüre Schicksalswege - Erinnerungen von Russlanddeutschen. Es sind nur etwas mehr als 200 Seiten, aber deren Inhalt ist gewichtig.
Dabei handelt es sich nicht nur einfach um Erinnerungen - an ein besonderes Erlebnis, einen schönen Urlaub, an eine schwere Prüfung. Vor Ihnen werden Geschichten von Menschen offen gelegt, die ihr Leben lang auf der Suche nach einem Zuhause waren und sind.
Deshalb ordnet sich diese Publikation in einen Zusammenhang ein, der größer ist, als er zunächst erscheinen mag. Die hier dargestellten Lebensgeschichten stehen vor dem Hintergrund der öffentlichen Auseinandersetzung um aktuelle Migrationsfragen, damit zusammenhängende Integrationsprobleme und veränderte gesetzliche Bestimmungen für die Rückkehrer. Und sie stehen vor den Auseinandersetzungen, die im Alltag stattfinden und oft deprimierend, ja, auch erniedrigend sind.
Damit werden Probleme unserer Zeit aufgeworfen, die durchaus von gesellschaftspolitischer Bedeutung sind. Diese ergibt sich aus der Notwendigkeit, eine möglichst rasche Integration der Russlanddeutschen in die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland zu erreichen. In diesem Prozess zeigen sich viele Schwierigkeiten, die verschiedene Ursachen haben.
Einerseits resultieren sie aus der auf historischer Unkenntnis beruhenden geringen Akzeptanz durch die einheimische Bevölkerung. Nicht nur in der Kneipe nebenan hört man des Öfteren: "Russlanddeutsche? Haben wir nicht schon genug Probleme? Millionen von Arbeitslosen und jetzt auch noch die! Außerdem, was heißt hier deutsch? Das sind alles Wirtschaftsflüchtlinge, die nur an unser Geld wollen!" u. v. m. Aber auch jene, die schon etwas gelesen oder gehört haben, bewegen viele Fragen nach dem Warum und Woher. Fragen, die durch die Politik und die Medien oft ungenügend oder einseitig beantwortet werden."
Auf der anderen Seite haben aber auch viele Rückkehrer Probleme. Diese haben ihre Ursachen vor allem in ihren Anpassungsschwierigkeiten an die hiesigen Gegebenheiten. Besonders junge Aussiedler sind von einer sozialen Erscheinung betroffen, die als Indentitätsdiffusion bezeichnet wird. Die Gründe hierfür liegen in einer politisch-moralischen und kulturellen Entwurzelung, die bei den zu uns kommenden Nachfahren der Wolga- und Schwarzmeerdeutschen sogar eine doppelte ist.
Erwächst daraus nicht eine große Herausforderung an unsere gesamte Gesellschaft? Müssen nicht Schule, Medien, öffentliche Institutionen und alle Kräfte guten Willens mehr und besser für ein geistiges Klima Sorge tragen, das diesen Eingliederungsbemühungen entspricht?
So muss man die seit Jahren erfolgreichen Bemühungen der Berliner Landesstelle für Schule und Medien sowie des Hessischen Kultusministeriums, die diesen Prozess mit entsprechenden Angeboten und Materialien für die Unterrichtsgestaltung in den Schulen ihrer Länder fördern, besonders herausstellen und würdigen.
Auch der Bildungsverein für Volkskunde stellt sich dieser Aufgabe. Als konkrete Beiträge zur Erforschung und Veröffentlichung der Geschichte der Russlanddeutschen sind die vier Bände "Geschichte der deutschen Auswanderungen" und das "Lexikon zur Geschichte und Kultur der Russlanddeutschen" zu nennen. Und nicht zuletzt sei auf das Internet-Projekt verwiesen, welches unter www.russlanddeutschegeschichte.de zur Kenntnis genommen werden kann. Dieses kann auch für Lehrer und Erzieher eine wahre Fundgrube für die Gestaltung des Unterrichts sein.
Während die vorgenannten Projekte im Wesentlichen die Geschichte der Russlanddeutschen im Ganzen zum Gegenstand haben, sollten mit dem Projekt "Schicksalswege - Erinnerungen von Russlanddeutschen" die geschichtlichen Abläufe in ihrer konkreten Widerspiegelung im Leben einzelner Zeitzeugen veranschaulicht werden. Dazu wurden von Mitarbeitern des Projektes in der Zeit von Juni 2000 bis Januar 2001 eine größere Anzahl von Interviews und Gesprächen geführt und diese dokumentiert.
Dabei war für uns wichtig, russlanddeutsche Aussiedler unterschiedlicher Altersstufen mit ihren spezifischen Problemen und Sichtweisen zu ihrem Leben in der ehemaligen Sowjetunion bzw. den heutigen GUS-Staaten, zu ihren Übersiedlungsgründen sowie zur Eingliederung hier zu befragen. Deshalb war es nicht möglich, eine einheitliche Erhebungsmethode anzuwenden. Vielmehr passten wir diese den individuellen Kommunikationsgewohnheiten unserer Gesprächspartner an. Auch mussten wir teilweise vorhandene Schwierigkeiten hinsichtlich der sprachlichen Verständigung bewältigen. Vor allem aber galt es Ängste und Bedenken hinsichtlich der konkreten Wiedergabe der Lebensgeschichten mit Name und Anschrift abzubauen.
Allen, die bereit waren, uns aus ihrem Leben zu erzählen, gebührt großer Dank. Es war für sie nicht leicht, über ihren Lebensweg und das Schicksal ihrer Familie zu berichten. Schmerzhaftes kam zur Sprache, schon vernarbte Wunden brachen erneut auf, immer ging es auch um sehr persönliche Dinge.
In vorliegender Broschüre kommen 28 der von uns befragten Russlanddeutschen zu Wort. Es sind Menschen aller Altersstufen. Menschen, die schon einige Jahre in Deutschland leben oder gerade erst angekommen sind.
Sie berichten über ihr Leben als Teil der deutschen Volksgruppe, die sich einst auf dem Weg machte, um eine neue Heimat zu finden und die bis heute noch nicht ihr wahres Zuhause gefunden hat. Einzelne erinnern sich noch der Geschichten, die die Väter von den Vorvätern und diese von ihren Vätern hörten. Geschichten, die auf die Etablierung der deutschen Kolonisten und die Ergebnisse mühsamer Aufbauarbeit sowie die beginnende Russifizierungspolitik im 19. Jahrhundert verweisen. Über Generationen bewahrte Geschichten und Dokumente belegen das mühsame Auf und immer wiederkehrende Ab im Leben der Deutschen in Russland. Konkreter sind die persönlichen Erinnerungen und vielfältiger die Zeugnisse über die Zeiten unter dem Einfluss der Sowjetherrschaft und des Stalinismus sowie des 2. Weltkrieges. Diese Zeit ist allen von uns befragten Zeitzeugen bis heute wie ein Traum in Erinnerung geblieben.
Wer heute leichtfertig darüber urteilen will, dass viele Rückkehrer die deutsche Sprache nicht beherrschen, sollte nicht vergessen, dass schon das Wort "deutsch" in der ehemaligen Sowjetunion lange Zeit verpönt war. Viele Deutsche in Russland mussten ihre Identität verstecken, den Kindern verbieten, in der Öffentlichkeit Deutsch zu sprechen, konnten nur noch heimlich deutsche Sitten und Bräuche pflegen. Sollte es uns nicht zu denken geben, wenn man manchmal hört: "Dort war ich nur ein ,Fritz` und hier bin ich nur ein ,Russe` "?
Manche der in diesem Band geschilderten Lebenserinnerungen beschäftigen sich mit dem Ankommen in Deutschland und den großen Hoffnungen, die damit verbunden waren. Sicherlich waren bei dem einen oder anderen auch Illusionen vorhanden, die den Blick für die Realitäten trübten. Aber als besonders schmerzlich empfinden viele Russlanddeutsche die Tatsache, dass sie hier kalt und un wirtlich empfangen werden. Für die Behörden in den Amtsstuben sind sie oft nur ein Fall mit einer Nummer. Für die Nachbarn und Arbeitskollegen bleiben sie Fremde.
Absicht der vorliegenden Schrift ist es, ein wenig dazu beizutragen, dass der Leser Zugang zur Geschichte der Russlanddeutschen gewinnt, zu ihrem Alltag, zu den subjektiven Erfahrungen, den Wünschen, Hoffnungen und Ängsten, den Freuden und Leiden, aber auch zu ihrer Widerstandskraft und ihrem schöpferischen Vermögen, unsere Kultur zu bereichern, - und wir so über ein besseres Wissen voneinander zu einem besseren gegenseitigen Verständnis kommen mögen.
Berlin, Dezember 2001, Horst Bartsch