История Россия-немецких

8 Культурный архив

8.2.5 Дороги судьбы - воспоминания

8.2.5.3.10 Sergej Dortmann

Sergej Dortmann wurde am 14. September 1975 in Tscheljabinsk geboren.

Sein Stiefvater arbeitete als Bergmann in einer Kohlengrube. Die Mutter war als Lagerarbeiterin in einer Farbenfabrik und zeitweise in einem Kindergarten tätig.

Er hat zwei Schwestern im Alter von 17 und 15 Jahren.

Seit der Kindheit leidet Sergej Dortmann an einer schweren Niereninsuffizienz.

Im November 1997 siedelte die Familie nach Deutschland über.

Diese Tage werde ich nie in meinem Leben vergessen. Es war am Montag, dem 3. Mai 1999 als ich vom Krankenhaus informiert wurde, dass ich mich dort sofort zur Nierentransplantation einfinden solle. Ich konnte es zunächst nicht so richtig glauben. Erst seit einem Jahr stand ich auf der Warteliste. Man hatte mir gesagt, dass ich Geduld aufbringen müsste. Viele warteten oft schon vier Jahre und länger auf eine Spenderniere. Es gäbe nicht genug und außerdem müsste eine solche Niere auch immer zu einem passen. Nun war es so weit, es war das eingetreten, worauf ich so lange gewartet hatte. Trotzdem kam es für mich überraschend. Freude, aber auch ein Gefühl des Unbehagens erfassten mich. Würde die große Operation gut verlaufen, würde mein Körper das fremde Organ ohne viele Probleme annehmen und würde die neue Niere so, wie erhofft, arbeiten? Ich hatte keine Angst. Die Ärzte hatten mir, als sie mich als Kandidaten für eine Transplantation aufnahmen, alles genau erklärt. Nach meinem Eintreffen im Krankenhaus sprachen sie noch einmal über das Bevorstehende, über das Warum und das Wie. Nein, ich war nicht ängstlich. Ich sah die große Chance, die mir zu einem neuen Leben geboten wurde. Dennoch war ich erregt, es bewegten mich sehr viele Gedanken und Gefühle, als ich im Universitätsklinikum Benjamin Franklin zur Operation vorbereitet wurde.

Schon sehr zeitig wurde in meiner Kindheit festgestellt, dass meine Nieren unzureichend arbeiteten. Zuerst bekam ich Medikamente. Doch es stellte sich keine Besserung ein. Im Gegenteil, die Situation wurde immer schlimmer. Ich fühlte mich meistens schwach und unwohl. Hinzu kam noch erhöhter Blutdruck. Als ich 13 Jahre alt war, verschlimmerte sich mein Zustand. Ich musste dreimal in der Woche zur Dialyse ins Krankenhaus. Ich wurde an eine künstliche Niere angeschlossen. Dadurch konnten die Symptome der Krankheit wenigstens zeitweise eingedämmt werden.

Die Krankheit behinderte mich sehr. Ich war oft gezwungen, dem Unterricht in der Schule fernzubleiben. Aufgrund meines häufigen Krankseins musste ich die 4. Klasse wiederholen. Eine Dialyse dauerte in Tscheljabinsk immer fünf Stunden. Das war nur sehr schwer mit der Schule zu vereinbaren. Auch sonst in der Freizeit blieben mir nicht viele Möglichkeiten. Nur ab und zu konnte ich mich den Mitschülern und Freunden im Wohngebiet anschließen. Ich fühlte mich meistens nicht gut, konnte nicht wie die anderen herumtollen und blieb viel zu Hause.
mit freund

Als ich dann dennoch 1992 die Schule mit der 9. Klasse abgeschlossen hatte, konnte ich nicht mit der Lehre beginnen. Die Dialyse brachte nicht den erwarteten Erfolg. Und ich fand keine Ausbildungsstelle, wo ich die zeitaufwendigeS. Dortmann (li.) mit einem Freund in Berlin Dialyse, meinen geschwächten Zustand und eine Lehre in Einklang bringen konnte. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und den damit einhergehenden politischen und wirtschaftlichen Veränderungen ging es auch in der Berufsausbildung drunter und drüber. Erst 1996 begann ich eine Ausbildung als Friseur. Es war eigentlich eine Verlegenheitslösung, mehr ein Unterkommen als ein Ausdruck meines Interesses für diesen Beruf. Es ging auch nicht lange gut. Schon nach zwei Monaten habe ich die Lehre dann abbrechen müssen. Die Arbeit im Stehen vertrug ich nicht.

Was sollte werden? Meine Eltern und ich sahen keinen Ausweg mehr. Trotz der Dialyse verbesserte sich mein Zustand nicht. Im Gegenteil, er wurde schlechter. Die medizinische Versorgung wurde in Tscheljabinsk immer miserabler. Die Dialyse-Technik war veraltet. Es gab nur schwer Medikamente. Und wenn sie zu bekommen waren, dann waren sie für uns nicht zu bezahlen. Das medizinische Personal musste unter sehr schlimmen Bedingungen arbeiten, sie wurden schlecht oder gar nicht bezahlt. Darunter litt ihre Einstellung. Gleichgültigkeit und schlechte Behandlung der Patienten griffen mehr und mehr um sich. (Wie schlecht die Situation war, begriff ich in vollem Umfang erst, als ich in Deutschland behandelt wurde und die Dinge hier und dort vergleichen konnte.) Es wurde uns, meinen Eltern und mir, damals auf schmerzliche Weise bewusst, dass ich letztlich mit meiner schweren Krankheit nur eine Lebenschance hatte, wenn wir nach Deutschland übersiedelten.

Aber es gab auch noch andere Gründe für die Übersiedlung. Besonders Großmutter, meine Eltern, aber auch ich selbst wollten als Deutsche die neue Möglichkeit nutzen, unter Deutschen zu leben. Hinzu kam noch folgendes: Mein Vater hatte sein Leben lang als Bergmann in der Kohlengrube gearbeitet. Seit Mitte der 90er Jahre gab es wachsende Landschaft im Ural Schwierigkeiten mit der Lohnzahlung.
landschaft im ural

Zuerst beschränkten sich die Rückstände nur auf ein oder zwei Monate. Später bekamen sie überhaupt nur noch zehn Prozent des Lohnes ausgezahlt. Auch bei Mutter auf der Arbeit gab es ähnliche Probleme. Früher kannten wir keine Not, meine Eltern hatten ihr gutes Auskommen. Nun wussten sie nicht, woher sie das Geld nehmen sollten. Das meiste zum täglichen Leben wurde immer teurer. Hinzu kam noch, dass Stiefvater gesundheitlich nicht mehr ganz auf der Höhe war. Er hätte die schwere Arbeit unter Tage nicht mehr lange fortsetzen können. All das, doch vor allem die Sorge um mich führte zu dem Entschluss, Tscheljabinsk und Russland zu verlassen. Einige Verwandte meiner Mutter lebten schon seit einiger Zeit in Deutschland.

Seit November 1997 sind wir in Berlin. Aus meiner Sicht begannen sich die Dinge gleich zum Positiven zu wenden. Die Ärzte untersuchten mich gründlich. Ich bekam die neuesten Medikamente. Auch die Dialyse wirkte sich hier besser aus. Die Blut- und Urinwerte verbesserten sich merklich und ich fühlte nicht mehr so stark die Schwäche und Mattigkeit, die es mir die ganzen Jahre hindurch nur sehr bedingt ermöglichten, mich im Alltag normal zu bewegen. Wie ich schon angedeutet habe, war die medizinische Betreuung hier ganz anders als in Tscheljabinsk, ein sauberes, gut eingerichtetes Dialyse-Zentrum, modernste Technik, Ärzte und Krankenschwestern, die mich mit großer Sorgfalt und Einfühlungsvermögen behandelten. Ich fühlte mich plötzlich wie in einer anderen Welt.

Trotz der Verbesserung meines Zustandes sagten mir aber die Ärzte gleich zu Beginn, dass die Dialyse aufgrund der Schwere der Erkrankung und meiner Jugend nicht der Endpunkt der Behandlung sein könnte. Sie schlugen eine baldige Nierentransplantation vor. Nur diese würde mir ein fast normales Leben ermöglichen, einen Beruf zu lernen und später berufstätig zu sein. Doch sie konnten mir nicht sagen, wann die Transplantation vorgenommen werden könnte. Ich wurde auf die Liste gesetzt und musste warten. Das war im April 1998.

Damals konnte ich nur wenige Worte Deutsch. Ich besuchte einen Deutschkurs, drei Monate an der Volkshochschule. Ansonsten hatte ich wenige Kontakte außerhalb der Familie. Ab und zu war ich mit zwei Jugendlichen in meinem Alter zusammen, die ich im Aufnahmelager Marienfelde kennen gelernt hatte. Die meiste Zeit verbrachte ich zu Hause mit meiner Musik, d. h., ich spielte Gitarre und Keyboard. Außerdem sang ich gern. Das Gitarrespielen habe ich in Tscheljabinsk gelernt, ganz von selbst ohne Unterricht. Ich war mit einigen Jungs befreundet. Wir trafen uns auf der Straße, machten Musik und hatten großen Spaß. Seitdem ist die Musik mein Hobby. Hier habe ich mir noch das Keyboard gekauft. Mich fasziniert immer wieder von neuem, was ich damit alles machen kann. Die Imitation von unterschiedlichen Musikinstrumenten, die verschiedenen Klangfarben, das ist einfach wundervoll. Auch meine Schwestern sagen, dass ich mittlerweile auch schon ganz ordentlich auf dem Keyboard spiele.

Am 5. Mai letzten Jahres wurde die Transplantation durchgeführt. Die Operation verlief erfolgreich. Es hat natürlich einige Wochen gedauert, bis ich das Krankenhaus verlassen konnte. Meine Eltern und meine Schwestern haben sich viel um mich gekümmert, mich fast jeden Tag besucht. Und das Wichtigste, worauf die Ärzte und ich gehofft haben, ist eingetreten: die Spenderniere arbeitet einwandfrei. Ich bin jetzt nicht mehr auf die Dialyse angewiesen, ich kann ohne die künstliche Niere auskommen. Die Ärzte sind mit den Analysewerten zufrieden. Ich fühle mich gut. Natürlich muss ich immer noch Medikamente einnehmen, vor allem Medikamente, die dafür sorgen, dass mein Körper die fremde Niere nicht abstößt.

Ich habe es nicht von einem Tag auf den anderen plötzlich gemerkt, dass für mich ein neues Leben begonnen hat. Doch jetzt, nachdem schon über ein Jahr vergangen ist und ich mich von der Operation und meinem vorherigen geschwächten Zustand weitgehend erholt habe, fühle ich mich wie neugeboren. Ich habe nun eine Zukunft vor mir, eine Zukunft, ohne an die Dialyse gebunden zu sein. Ich kann jetzt normal leben. Darüber bin ich sehr glücklich. Deutschland, den Ärzten und allen, die mir geholfen haben und weiterhin helfen, bin ich sehr dankbar. Und auch bei meinen Eltern ist, so glaube ich, diese Freude und Dankbarkeit. Mit der Übersiedlung haben sie mir nicht nur ein neues Leben, sondern auch eine Perspektive eröffnet. Dabei übersehe ich nicht, dass meinen Eltern in Deutschland viel abverlangt wird. Es ist für sie nicht leicht, hier Fuß zu fassen. Stiefvater arbeitet zur Zeit im Wirtschaftsdienst eines Krankenhauses. Diese Stelle hat er über das Sozialamt bekommen. Sie ist zeitlich befristet. Es ist für ihn schwer, eine feste Arbeit zu bekommen. Auch meine Mutter sucht noch. Trotz der vielen Arbeit, die sie wegen meiner Krankheit hatte, machte sie eine Umschulung zur Fußpflegerin. Vielleicht hat sie bald Glück und findet in dieser Richtung etwas Passendes. Meine Schwestern gehen in die 9. Klasse. Sie lernen gut und haben viele Kontakte zu Einheimischen.
Plastik mit Sanduhr, Berlin-Kreuzberg

Für mich hat jetzt unwiderruflich eine neue Etappe begonnen. So richtig ist mir das bewusst geworden, als ich neulich im Gemeindezentrum der Evangelischen Kirche mit dortigen Sozialarbeitern zusammen saß. Wir sprachen auch über meine Zukunft. Bislang befand ich mich hier in Deutschland in der Situation, dass alle auf mich zugekommen sind, um mir bei meiner Krankheit zu helfen.

Jetzt nach der erfolgreichen Transplantation stehe ich vor der Aufgabe, einen Beruf zu erlernen und später dann eine Arbeit zu finden. Bei aller Hilfe, die ich dabei sicherlich bekommen werde, wird es in erster Linie von mir selbst, von meinem Willen und meiner Initiative abhängen, ob und wie schnell mir das gelingt. Nun ist es an mir, stärker auf andere zuzugehen. Das ist nicht einfach. Das sehe auch ich so. Das werde ich wohl erst lernen müssen.

Der erste Schritt ins selbstständige Leben besteht darin, noch besser Deutsch zu lernen. Ich verstehe noch nicht alles im Gespräch. Demnächst werde ich einen weiteren Deutschkurs besuchen. Man hat mir gesagt, dass ein solcher Kurs zwar notwendig ist, aber nicht alle sprachlichen Probleme lösen werde. Ich müsse mehr zu Hause im Selbststudium tun, regelmäßig, mich Tag für Tag mit der deutschen Sprache beschäftigen. Sie haben sicherlich Recht. Aber das fällt mir schwer. Ich bin dafür nicht der Typ.

Doch was soll's, ich muss da wohl durch. Es gibt keinen anderen Weg. Das wird eine Umstellung in meinem Denken und Verhalten erfordern. Ich habe das Glück der erfolgreichen Nierentransplantation erfahren und es wurde mir eine neue Perspektive gegeben. Nun bin ich gefordert, größere Selbstständigkeit und mehr Durchsetzungsvermögen gegen mich selbst und gegenüber anderen aufzubringen ...
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