Geschichte der Russlanddeutschen

Auswanderung der Deutschen

Teil 1 1763 - 1820

2 Abwerbung

2.3.3.1 MIR - System

M i r bedeutet so viel wie Dorfgemeinschaft. Bezeichnet wird so auch eine für das zaristische Russland des 18./19. Jahrhunderts spezifische Agrarordnung, die "Umteilungsgemeinde":

Das Land war Gemeindeland. Es durfte nicht auf ein Familienmitglied vererbt werden, sondern musste auf die lebenden männlichen Personen periodisch immer wieder neu verteilt werden. Dieses System förderte das Interesse an großen Familien – je mehr männliche Familienmitglieder vorhanden waren, um so mehr Land stand einer Familie zu.

Wie bereits erwähnt, erhielten die Kolonisten das Land nicht wie versprochen als freies Eigentum, sondern nur zur Erbleihe. Obereigentümer des Bodens blieb die Krone. Das Land wurde der Gemeinde zur Nutzung übergeben. Sie war auch für die Leistung der Geld- und Naturalabgaben verantwortlich. Das nun vorgesehene Erbrecht stieß bei den Kolonisten auf wenig Gegenliebe. Es widersprach ihren heimatlichen Traditionen. Zudem war es gar nicht möglich, dass alle älteren Söhne als Handwerker in benachbarten Städten ihren Lebensunterhalt verdienen konnten. Sie mussten ebenfalls in der Landwirtschaft untergebracht werden.

Um das notwendige Land bereitstellen zu können, begannen die Siedler in den Wolgakolonien bereits in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts das Mir-System zu übernehmen. Die Auflösung der Tutelkanzlei durch Katharina II. im Jahre 1782 und die folgende "kontorlose Zeit" beförderten dies. So konnte zumindest kurzfristig der Landmangel behoben werden. Langfristig aber hatte diese Entwicklung negative Folgen. Der Landanteil der einzelnen Bauern verkleinerte sich ständig. Seit 1793 verringerte sich der Anteil der einzelnen Familien auf 20 Desjatinen Land. 1840 lag er bereits unter 15 Desjatinen und umfasste somit nur noch die Hälfte des ursprünglichen Landbesitzes, der jeder Kolonistenfamilie bei ihrer Ansiedlung zur Verfügung gestellt worden war.

Die später gegründeten Schwarzmeerkolonien übernahmen das Mir-System nicht. Die Kolonisten erhielten hier aber im Unterschied zu den Siedlern in den Wolgakolonien 60 Desjatinen Land und befolgten das Verbot, das Land unter den Erben aufzuteilen. Die nichterbberechtigten Söhne mussten den väterlichen Hof tatsächlich verlassen und ein Handwerk erlernen. Als einzige Alternative blieb ihnen der Status eines "Anwohners". In diesem Fall waren sie zwar Inhaber einer eigenen kleinen Wirtschaft ohne Ackerland, sie mussten sich aber im Nebenverdienst als Tagelöhner bei ihrem erbberechtigten Bruder verdingen. Dies führte in den Schwarzmeerkolonien dazu, dass im 19. Jahrhundert die meisten Landarbeiter selbst Russlanddeutsche waren.
Startseite  |   Inhalt   |   zurück