Geschichte der Russlanddeutschen

Auswanderung der Deutschen

Teil II 1820 - 1917

1 wirtschaftliche Entwicklung der Russlanddeutschen

1.6 Unterschiedliche Entwicklung

Die Unterschiede der wirtschaftlichen Entwicklung in den beiden Hauptsiedlungsgebieten - Wolgaregion und Südrussland - waren erheblich. Ursache für die Differenzierung waren die unterschiedlichen Agrarverfassungen. Während in den Wolgakolonien die Umverteilungsgemeinde die wirtschaftliche Entwicklung hemmte, wirkte sich das Anerbrecht in Südrussland auf diese förderlich aus, zugleich bewirkte es aber auch eine starke soziale Differenzierung unter den Kolonisten.

Die kompakte Siedlungsweise der wolgadeutschen Kolonisten verhinderte den Kauf oder die Pacht von weiterem Ackerland, ein Weg, der in den Kolonien Südrusslands vielfach genutzt wurde. Die Streulage der Kolonien erwies sich dabei als ein Vorteil.

Aber auch Handel und Handwerk profitierten von der Streulage. Die Handwerker kamen nicht nur häufiger in Kontakt zu ihren Nachbarn, sie konnten bei ihnen auch ihre Erzeugnisse absetzen. Waren es zunächst Wagen und Kutschen, so folgten bald Pflüge und andere landwirtschaftliche Geräte, die in größeren Serien hergestellt wurden. Dies förderte den Bau von Fabriken zur Herstellung von Mäh- und Dreschmaschinen. Der Handel der südrussischen Kolonisten profitierte ebenfalls von der Streulage.

Da in den südrussischen Kolonien die Bauerngüter als Einheit erhalten blieben, konnten die Kolonisten effektiver wirtschaften. Sie waren nicht gezwungen, zwischen den zum Teil weit voneinander entfernt liegenden Landstreifen (bis zu 30 km) - wie in den Wolgakolonien üblich - hin und her zu pendeln. Dies waren neben dem hohen Zeitaufwand für den Anfahrtsweg auch ungünstige Voraussetzungen für die Verbesserung des Ackerbaus. Die Mehrfelderwirtschaft mit geregelter Fruchtfolge wurde in den Wolgakolonien erst in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts von den Mennoniten übernommen. In den Kolonien Südrusslands war diese Form des Anbaus bereits zwanzig bis dreißig Jahre früher bekannt.

Durch die Übernahme des Mir-Systems wurde die Entwicklung des Privateigentums und damit die Entwicklung von Bauernhöfen und kommerziell ausgerichteten Großgütern in den Wolgakolonien bis zum Ende des 19. Jahrhunderts bis auf wenige Ausnahmen verhindert. Das Mir-System ist dafür verantwortlich, dass sich in den Wolgakolonien bis zum Ende des 19. Jahrhunderts keine breitere wohlhabende Bauernschicht, nur wenige Großgrundbesitzer und keine reichen Unternehmer herausbildeten, wie dies in den Siedlungsgebieten Südrusslands der Fall war.

Die kleinen, zersplitterten Landanteile, die klimatischen Bedingungen und die einseitige Konzentration auf den Weizenanbau machten die Bauernwirtschaften in den Wolgakolonien anfällig für Missernten und damit für wirtschaftliche Notlagen. Dies war den Kolonisten in Südrussland durchaus bekannt, und sie nutzten es aus, wie eine Notiz aus der "Odessaer Zeitung" vom 22. Januar.1881 belegt: "An der Wolga gibt es ausnahmsweise keinen Hunger, deswegen sind die Arbeiter auf der Krim teuer und rar, der Sommerlohn für ein wolgadeutsches Mädchen geht bis 115-125 Rubel..."
 
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