Geschichte der Russlanddeutschen
Auswanderung der Deutschen
Teil II 1820 - 1917
2 Veränderte Rahmenbedingungen für die Russlanddeutschen
2.1 Russland seit der Mitte des 19. Jahrhunderts: Aufhebung der Leibeigenschaft und weitere Reformen
2.1.2 Militärdienstpflichtgesetz von 1874
2.1.2.2 Verkürzung des Militärdienstes
Bis 1859 wurde in Russland das Prinzip der Zwangsrekrutierung mit 25-jähriger Dienstzeit praktiziert. Danach dauerte der Militärdienst 15 Jahre. Aus den zu einer Gemeinde gehörenden Familien wurden die ausgelost, die einen Rekruten zu stellen hatten. Die Rekrutierung konnte für die Familien eine erhebliche wirtschaftliche Belastung darstellen, denn die Arbeitskraft fiel für einen langen Zeitraum aus und die Wahrscheinlichkeit, dass der Rekrutierte als Krüppel oder aber auch gar nicht zurückkehrte, war relativ hoch. Mit der Einführung der allgemeinen Militärdienstpflicht zum 1. Januar 1874 wurde dieses Rekrutierungssystem abgeschafft, die Dauer der Militärdienstpflicht wurde auf sechs Jahre begrenzt. Entsprechend des erreichten Schulabschlusses konnten aber Verkürzungen in Anspruch genommen werden.
Bei der Einführung der allgemeinen Militärdienstpflicht hatte die russische Regierung den Absolventen der verschiedenen Schultypen eine unterschiedliche Verkürzung des Wehrdienstes in Aussicht gestellt. Wenn Gemeinden entsprechende Anträge stellten, konnten Dorf- oder Zentralschulen als Lehranstalten des 4. oder 3. Grades anerkannt werden und ihr Besuch den Absolventen zwei bzw. drei Jahre des sechsjährigen Wehrdienstes ersparen.
Kolonistensöhne machten von den Möglichkeiten eines verkürzten Militärdienstes Gebrauch. 1890 glaubte denn auch ein Revisor auf der Krim, in diesen Bestimmungen den Grund dafür zu sehen, dass 76 Kolonistenkinder weiterführende russische Schulen besuchten. In vielen Fällen ergriffen Söhne deutscher Gutsbesitzer für kurze Zeit den Lehrerberuf, um sich auf diese Weise vor dem Militärdienst zu drücken.