Geschichte der Russlanddeutschen

Auswanderung der Deutschen

Teil III 1917 - 1955

6. Die Nachkriegsentwicklung bis zur Auflösung des Sonderregimes für die Russlanddeutschen 1955

6.1 Kommandanturregime von Kriegsende 1945 bis 1955

6.1.2 Aus Erlebnisberichten zur Kommandanturzeit

Ida Schmidt:
Hoffnungen bei Kriegsende
"Den 9. Mai 1945, den Tag des Sieges über den Faschismus, feierten wir ausgelassen. Wir hatten uns irgendwo Alkohol besorgt und waren fröhlich und ausgelassen. Wir sangen und tanzten auf der Straße. Nun, so glaubten wir, stände der Rückkehr zu unseren Familien und Verwandten nichts mehr im Wege. Doch wir hatten uns getäuscht. Die meisten von uns mussten bleiben. Wir, die Deutschen, durften nicht ohne Zustimmung den Arbeitsplatz und den Wohnort wechseln. Bis 1955 mussten wir uns bei der Polizei melden und waren Bürger zweiter Klasse."

Otto Dreit:
otto dreit
"1947 gab es die Bewegung "Spezialisten aufs Land". Sie traf vor allem die Deutschen in Tomsk, denn unter ihnen arbeiteten besonders viele in solchen Berufen. Wollte man die Deutschen aus den großen Städten heraus haben? Ich zog mit meiner Familie nach Asino, in eine kleine Stadt, knapp 100 km von Tomsk entfernt. Für die Deutschen war nach dem Kriege bis 1955 die Zeit der Kommandantur. Wir durften uns im Lande ohne behördliche Zustimmung nicht frei bewegen. Es bestand Arbeitsplatzbindung. Zuerst war das für mich und die anderen Deutschen in meinem Umfeld kein großes Problem. Man gab sich relativ großzügig. Ab 1948 wurde das Regime strenger. Zuerst mussten wir uns einmal, später sogar zweimal im Monat bei den Behörden melden. Ich spielte in der Fußballmannschaft von Asino als Torwart. Für die Auswärtsspiele war es nicht einfach, für mich immer die notwendige Genehmigung für die Fahrt in andere Orte zu bekommen. Doch als Torwart war ich ein wichtiger Spieler. Der Parteisekretär der Stadt war daran interessiert, dass "seine" Fußballmannschaft nicht verlor. Und so kam ich dann letztlich doch immer zu meinem "Propusk" (Ausweis)."

Katharina Torno:
autostr
"Ende 1946 wurde der Arbeitsdienst für uns als beendet erklärt. Doch wir durften nicht zu unseren Familien. Es bestand weiterhin Arbeitsplatzbindung und wir Deutschen hatten uns in regelmäßigen Abständen bei der örtlichen Verwaltung zu melden. Von heute auf morgen wurde ich mit vielen meiner Gefährtinnen aus dem Lager nach Tadshikistan in die Nähe von Leninabad gebracht. Dort baute man eine Autostraße, auf der große Lastwagen Erze zu den Hochöfen transportieren sollten. Zu Beginn wurden wir auch dort in Baracken untergebracht. Doch bald bekamen wir Lohn für unsere Arbeit. Wir konnten uns selbst eine Unterkunft suchen und mussten uns selbst verpflegen. In Tadshikistan lernte ich meinen Mann kennen. Er stammte aus der Gegend von Odessa. Während des Krieges geriet er in die Hände der deutschen Wehrmacht. Nach dem Sieg über Hitlerdeutschland kam er über einige Zwischenstationen auch zum Straßenbau nach Tadshikistan.

Wir haben 1947 geheiratet. 1948 wurde unsere Tochter Ella geboren. Es war für uns sehr schwer, die tägliche Arbeit mit der Fürsorge für das Kind in Einklang zu bringen. Mein Mann war für einen Stützpunkt verantwortlich, auf dem Lkws gewartet und betankt wurden. Gleichzeitig wurden die Geräte ausgegeben, die wir für den Bau der Straße benötigten. Als Ella noch klein war, durfte ich dort eine Zeit lang in der Nachtschicht arbeiten. Unsere Behausung, mehr Hütte als Haus, war in den Berg geschlagen, nur die Vorderseite mit Tür und Fenster bestanden aus Holz. Die anderen Seiten bildete das Gestein des Berges. Die Zimmerausrüstung war mehr als karg: ein breiter Bettkasten, ein grob gezimmerter Tisch, Hocker und ein Herd. Mehr besaßen wir nicht. (Erst später, Anfang der 50er Jahre, bezogen wir ein Zimmer in einem richtigen Haus. Da konnten wir uns dann ein bisschen mehr an Wohnmobiliar leisten.) Früh kochte ich immer so viel, dass unsere Tochter den ganzen Tag über genug zu essen hatte. Das Kochgeschirr mit dem Essen war auf dem Tisch fest verankert. Es sollte nicht umkippen. Manchmal, wenn mein Mann und ich abends nach Hause kamen, hatte unsere Tochter das Essen nicht angerührt. Den ganzen Tag über hatte sie das Bett nicht verlassen. Sie hatte Angst, sie vermutete irgend etwas Böses unten auf dem Fußboden und unter dem Bettkasten. Sehr erschrocken war ich eines Tages bei der Heimkehr von der Arbeit, als bei verschlossener Tür Ella nicht mehr im Zimmer war. Ich schrie wie verrückt und rannte völlig aufgeregt zu den Nachbarn, um ihnen von dem Unglück zu erzählen. Glücklicherweise klärte sich die Sache schnell auf. Verwandte von uns waren am Nachmittag gekommen und hatten unsere Tochter durch das Fenster geholt und in die Nachbarsiedlung mitgenommen". Lora Richter:
geburtsschein
"28. April 1947. ...In einem Fenster der kleinen hölzernen Baracken, die um einen rechtwinkligen Platz stehen, ist die ganze Nacht über das Licht nicht ausgelöscht worden. Einige Frauen schlafen nicht, sie haben dort Stunde um Stunde gewacht und versorgen nun das gerade geborene Kind und die erschöpfte Mutter. In dem Arbeitslager unweit der Stadt Sysran an der Wolga befinden sich nur Frauen. Außer einem Jäckchen und einer kleinen Hose, die jemand irgendwo beschaffen konnte, gibt es keine Babysachen. Frischgewaschene Arbeitsbekleidung und eine neuere Wolldecke müssen ausreichen. Die Frauen legen das kleine Mädchen neben die Mutter auf die Pritsche. Es erhält den Namen Larissa, doch bald wird es nur noch Lora genannt werden.

53 Jahre später. Lora Richter erzählt:
richter
"Meine Mutter war damals schon fünf Jahre lang in diesem Lager. Und 1947 bei meiner Geburt hat sie sich bestimmt nicht vorstellen können, dass sie mit mir noch weitere fünf Jahre dort würde bleiben müssen. Offiziell wurden zwar die Arbeitslager für die deutschstämmige Bevölkerung – das heißt das Regime der Zwangsarbeit und die militärische Bewachung – Anfang 1946 beendet, doch faktisch änderte sich im System bis 1952 nur wenig. Die Frauen, junge und ältere, wurden weiterhin festgehalten, sie waren an ihre Arbeitsplätze gebunden, durften nicht zu ihren Familien in die Deportationsgebiete zurück und auch nicht außerhalb des Lagers wohnen. Meine Erinnerung an diese Zeit ist erstaunlich deutlich. An vieles erinnere ich mich mit einer Klarheit, die im Allgemeinen für ein Kind in diesem Alter außergewöhnlich ist. Natürlich haben meine Mutter und ich über diese Jahre später oft gesprochen. Vielleicht hat auch das dazu beigetragen, dass mir einiges aus der Lagerzeit so nah und lebendig geblieben ist.

Die im Lager untergebrachten Frauen mussten für einen Sowchos arbeiten. Morgens um sechs Uhr begann der Tag, gleichwohl, ob es Winter oder Sommer war. Tagsüber sah ich meine Mutter nicht. In den Wintermonaten arbeitete sie meistens in einer Kolonne, die das auf der Wolga herbeigeschaffte Holz, nach dem es etwas zerkleinert worden war, zum Weitertransport auf Fuhrwerke und Lastwagen zu verladen hatte. Oft kam es dabei zu schlimmen Unfällen, Hände und Füße wurden gequetscht. Ich sehe noch heute Frauen, die mit schmerzvollen Gesichtern und weinend in die Wohnbaracke kamen, wo ihnen dann notdürftig ein Verband angelegt wurde. Ihr Weinen tat mir weh. Ich zog mich dann meistens in die Ecke des Raumes zurück. Erst später, wenn der Verband fertig war und die Verunglückten etwas zur Ruhe gekommen waren, näherte ich mich vorsichtig und versuchte, ihnen irgendwie mein kindliches Mitgefühl zu zeigen. Ich lehnte mich an sie und suchte ihre körperliche Nähe. Die Arbeit auf den Holzplätzen am Fluss war eigentlich harte Männerarbeit, doch darauf wurde keine Rücksicht genommen. Die Frauen hatten keine Wahl, sie mussten sich damit abplagen. Es war draußen oft schon finster, wenn sie ins Lager zurückkehrten. Im Sommer und im Herbst hatten es die Frauen etwas leichter. Sie mussten hauptsächlich Feldarbeiten verrichten – Kartoffeln, rote Rüben, Kohl und anderes ernten. Und das ganze Jahr über war außerdem das Vieh zu versorgen. Mutter hatte viel mit Pferden zu tun. Manchmal suchte ich sie auf. Vor den großen kräftigen Rappen hatte ich jedoch meistens Angst, besonders, wenn sie laut schnauften oder mit den Hufen scharrten. ...

Tagsüber, wenn Mutter zur Arbeit war, hielt ich mich bei den Frauen auf, die in den Baracken Hausarbeit machten. Sie säuberten die Unterkünfte und kochten das Essen für den Abend. Wir waren wie eine große Familie. Als eines der wenigen Kinder im Lager umsorgten sie mich. Sie steckten mir von ihrem kargen Essen häufig einen guten Bissen zu. Dennoch vergesse ich die wenigen Stunden nicht, die ich allein mit Mama in unserem kleinen Zimmer verbringen konnte. Sie erzählte mir dann von den Großeltern, den Tanten und Onkeln, die irgendwo weit weg lebten. Tante Therese, Mutters Schwägerin, kannte ich. Sie war auch im Lager und kam häufig zu uns. Doch die anderen waren mir fremd. Sie gehörten zu einer Welt, zu der ich keinen Zugang hatte."

(Kulturarchiv der Russlanddeutschen)

 
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