Geschichte der Russlanddeutschen

Auswanderung der Deutschen

Teil III 1917 - 1955

5 Der Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion und die Konsequenzen für die Russlanddeutschen

5.1 Die Auswirkungen der deutschen Besatzung auf die Russlanddeutschen

Nach dem Überfall Hitler-Deutschlands auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 geriet ein Teil der Russlanddeutschen (ca. 20 %), den die sowjetischen Behörden nicht mehr rechtzeitig evakuieren konnte, zeitweilig in den Machtbereich der deutschen Militär- und Ziviladministration. Damit kamen sie aber nur von einem totalitären System in ein anderes; die "Befreiung" von Stalins Herrschaft brachte ihnen eine andere Gewaltherrschaft mit neuer Entrechtung und Erniedrigung. Die deutsche Besatzung konfrontierte die Russlanddeutschen mit verschiedenen Maßnahmen der Nationalsozialisten und der Militärs.
volkstumausweise

Kategorisierung der Russlanddeutschen

Als eine der ersten Maßnahmen wurden die Russlanddeutschen, die nach NS-Wort-Schöpfung jetzt als "Volksdeutsche" bezeichnet wurden, von den SS-Sonder-Kommandos "R" nach rassenbiologischen und rassenpolitischen Merkmalen erfasst und kategorisiert.

Vier Kategorien der Abstammung ("Deutschstämmigkeit") wurden mit vier Kategorien des "Deutschtums" (der politischen Zuverlässigkeit) kombiniert. Darauf basierend erfolgte die Einstufung link jeder Person für den möglichen künftigen Einsatz im Rahmen des "Generalplanes Ost".

Nationalsozialistische Umerziehung der "Volksdeutschen"

Aufgrund der rassenpolitischen Erhebung konstatierten die SS-Einsatztruppen einen Zustand unter den Russlanddeutschen, den sie mit "Verfallserscheinungen aus der bolschewistischen Herrschaftszeit" umrissen. Dieser Zustand sollte durch Maßnahmen zur "Festigung des Deutschtums" korrigiert werden. Zuerst erfolgte eine Reinigung der deutschen Volksgruppe von "verderblichen" und "minderwertigen Elementen" bei gleichzeitiger Hebung des weltanschaulichen Niveaus (im Nazi-Sinne), des Lebensniveaus sowie des Prestiges der "verwendbaren" Volksdeutschen gegenüber anderen Volksgruppen im Besatzungsgebiet.

In der Praxis bedeutete dies, dass Juden, Kommunisten, Sowjet- und Wirtschaftsfunktionäre "unschädlich gemacht" wurden, d. h. man erschoss sie oder brachte sie in Konzentrationslager. Deren beschlagnahmtes Eigentum wurde zur "Besserstellung der Volksdeutschen" an letztere verteilt.

Bei der nationalsozialistischen Umerziehung zu neuen Lebensanschauungen und Werten lag das Augenmerk der NS-Stellen insbesondere auf der Jugend. Diese sollte mit einem breit gefächerten System – von der Kinderkrippe über Schule und Ausbildung bis zu verschiedenen NS-Organisationen – "vollkommen umgestaltet werden".

"Neue Agrarordnung" in den russlanddeutschen Dörfern

Grosse Hoffnung hegten die Russlanddeutschen in den besetzten Gebieten, dass die deutsche Verwaltung die quasi-Enteignung während der Sowjetzeit durch die Kolchoswirtschaft wieder rückgängig machen würde, d. h. Grund und Boden und Bauernwirtschaften privatisiert würden. Nazi-Kalkül war aber eine möglichst effektive Ausbeutung der besetzten Ländereien. Da dies nur mit großflächigen Gütern möglich war, wandelten sie die bestehenden Kolchosen in "Landbaugenossenschaften" bzw. "Gemeindewirtschaften" um. Als Direktoren dieser Wirtschaftstypen wurden reichsdeutsche Landwirtschaftsführer eingesetzt, die vielfach mit großzügigen Privatgütern versehen wurden. Der Druck auf die "Volksdeutschen" war vielerorts stärker als unter der Sowjetmacht. Viele waren unzufrieden und verdingten sich lieber als "Ostarbeiter" in Deutschland.

Eine einzige Ausnahme von der "neuen Agrarordnung" gab es im von Rumänien (als Verbündeter Deutschlands) besetzten Transnistrien (Gebiet zwischen Dnjestr und Bug), wo ca. 135 000 Russlanddeutsche lebten.
Dort wurden die Kolchosen aufgelöst und private Bauernhöfe wieder wie in der NÖP-Zeit bewirtschaftet.

Kirche und Besatzungsmacht

Die Russlanddeutschen als ein traditionelles "Kirchenvolk" waren von der stalinschen Vernichtungspolitik gegen alles Religiöse zutiefst getroffen worden und erhofften sich von den "deutschen Befreiern" wieder volle Glaubensfreiheit und Förderung des religiösen Lebens.

Tatsächlich erlebten sie jedoch durch den zynischen Umgang der Nazis mit ihren religiösen Gefühlen nur eine erneute Demütigung. Eine Wiederbelebung des kirchlichen Lebens der Russlanddeutschen passte nicht in das NS-Weltbild mit seiner Führer-Gefolgschaftsideologie und deren Riten, die als Ersatzreligion dienten.

Umsiedlungen beim Rückzug der deutschen Truppen

karte warthegau
Als sich das Blatt des Krieges nach der verlorenen Schlacht von Stalingrad gewendet hatte, setzten die SS-Stäbe 1943/44 die letzte große Umsiedlungsaktion in Gang.
Etwa 365 000 "Volksdeutsche", hauptsächlich aus Transnistrien und dem deutsch besetzten Teil der Ukraine, wurden als so genannte Administrativumsiedler nach Ostdeutschland und in den damaligen Warthegau in mehreren Trecks umgesiedelt und dort teilweise eingebürgert.

Die Menschen auf den Trecks link waren (z. T. über 1 000 km zu Fuß) großen Gefahren und Strapazen ausgesetzt. Mangelnde Bekleidung, Wetterunbilden, Beschuss und Bombardierungen durch die vordringenden sowjetischen Truppen, Krankheiten durch fehlende Hygiene und Erschöpfung führten zu Verlusten an Menschen und Tieren.

Am Ziel, im Warthegau, warteten ghettoartige, mit Stacheldraht umzäunte und von der SS bewachte Umsiedlungslager. Dort wurden die ankommenden Umsiedlerfamilien registriert und, nach Kategorien differenziert, ihre Einbürgerung organisiert. In den Lagern mussten die Russlanddeutschen jedoch erkennen, dass sie nicht nur ihre Höfe verloren hatten, sondern zusätzlich betrogen wurden, indem man ihnen jetzt auch noch das unter großen Mühen über tausende Kilometer mitgeführte Vieh wegnahm - und ganz besonders - den Bauernstolz, das Pferdegespann. Das traf sie am härtesten.

Nach der Einbürgerungsprozedur erfolgte der Einsatz eines Teils von ihnen in den umliegenden Dörfern bei deutschen Bauern als Landarbeiter (!). Die wehrfähigen Männer wurden zur Wehrmacht, überwiegend zur Waffen-SS, eingezogen und kamen an die Ostfront.

So wurden die Russlanddeutschen, die unter deutsche Besatzung geraten waren, nach Umsiedlung und Ansiedlung versprengt, sie verelendeten materiell und moralisch.
 
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