Auswanderung der Deutschen
Teil IV 1955 bis Heute
5 Neubeginn in Deutschland
5.8 Jugendliche
5.8.5 Russlanddeutsche Generationen im Dialog
Konflikte, die russlanddeutsche Jugendliche beim Einleben in Deutschland haben, stoßen bei der älteren Generation auf Unverständnis. Dies spiegelt sich in zwei offenen Briefen wider, die in der Zeitschrift "Volk auf dem Weg", Nr. 4/2002 abgedruckt wurden.
In dem "offenen Brief russlanddeutscher Senioren an jugendliche Aussiedler" heißt es:
"... die ältere Generation wendet sich an einem bestimmten Moment ihres Lebens an die jüngere Generation mit Geleitworten. ...Unser Deutschtum wollte man ausrotten, und Widerstand kostete oft das Leben. ... Wir vererben euch, den jungen Menschen, unser und jetzt auch euer historisches Vaterland – Deutschland. Dieses Erbe ist mit Geld nicht messbar. ...Dank uns erhieltet ihr freien Zutritt in eine Welt, in der Begriffe wie Freiheit, Demokratie und Menschenrechte keine leeren Worte sind...
...alle deutschen Städte bemühen sich sehr darum, unsere Integration in die deutsche Gesellschaft zu erleichtern. Mehr kann man sich nicht wünschen. Der Rest liegt nun in euren Händen. Ihr beginnt euer Leben in einem hoch entwickelten Land, euch stehen alle Wege offen. Aber es passiert nichts von alleine. ...muss man sich große Mühe geben. Das Allerwichtigste für euch ist, die deutsche Sprache zu lernen. Das ist der Schlüssel, der die Tür zu euer Zukunft öffnet. Eure Arbeit ist das Lernen. ... gesetzliche und moralische Normen zu akzeptieren. ...Chance, sich in vielen Aktivitätssphären zu verwirklichen, angefangen vom kleinen Business bis hin zu diplomatischen Tätigkeiten ...
Uns älteren Leuten bereitet es bittere Schmerzen zu sehen, wie manche unserer Kinder und Enkel ihr junges Leben vergeuden. Ihre Freizeit wird mit Nichtstun, Alkohol, Drogen und Schlägereien gefüllt. Das ist der direkte Weg zum Abgrund. Ein Zurück gibt es selten. Ein solches Schicksal haben wir uns für euch nicht erträumt, so wollen wir euch nicht in der Zukunft sehen!
... Wir wünschen ... dass ihr über den Sinn eures Daseins nachdenkt, ...Warum sind wir hier – um zu schaffen oder um zu vernichten?"
Im Antwortbrief "Gegen Predigten in leeren Kirchen – die Antwort der Jugendlichen" ist zu lesen:
"... Wir haben Ihren Belehrungsbrief sehr ernst genommen und sagen es geradeheraus: Alles in dem Brief ist ehrlich verfasst und richtig. Unsere Zukunft hängt nur von uns ab, selbstverständlich. Wir werden so viel erreichen, wie wir an eigenen Kräften und Anstrengungen einsetzen. ...Wir sind die, bei denen wirklich nicht alles im Leben stimmt. Wir haben Probleme mit der Polizei. Es gibt gegen uns Gerichtsverfahren, auch hier in Deutschland.
... Doch es ist schwer, sich zu ändern. Auch wir möchten vollwertige Mitglieder dieser unserer Gesellschaft werden. ...Wir wurden von einem anderen Leben geformt, von einer anderen Moral und Philosophie ...Wir schreiben diesen Brief nicht, um uns zu rechtfertigen. Beginnen wir mit unserer Ausreise. Wir wurden nicht gefragt. Man brachte uns einfach her. In Deutschland sei es gut ...Schauen Sie uns an. Wir sind jetzt 17, 18, 19 oder mehr Jahre alt und leben seit drei bis vier Jahren in Deutschland. Wir wuchsen auf und entwickelten uns in einer Zeit der Schrankenlosigkeit und des völligen Zerfalls der Länder der ehemaligen UdSSR. ...wir lebten in einer Welt, in der Kinder auf vieles verzichten mussten. Das Wichtigste, was ihnen fehlte, war die Kindheit.
Die Eltern hatten nicht einmal Geld, um Schulbücher zu kaufen. Viele von uns haben mit eigenen Augen weder ein Theater noch ein Museum noch gute Bücher gesehen. Wir lebten in Provinznestern, in dem schlimmste Flüche, Saufen und Schlägereien an der Tagesordnung waren ... Man hat uns unsere Kindheit geraubt. ...Und jetzt sind wir hier. Wir sind so, wie wir sind. Man hat uns in sechste, siebente oder achte Klassen, ohne Sprache und ohne ein Wissen über das neue fremde Schulsystem ... Du sitzt da, der Lehrer spricht, aber du weißt nicht, was er sagt. Du kommst nach Haus, und wieder gibt es Probleme. Die Eltern arbeiten nicht in ihren Berufen, ihre Diplome werden nicht anerkannt, sie arbeiten überhaupt nicht ... Uns blüht nur schwere und schmutzige körperliche Arbeit. Das Handicap heißt Sprache ... Ihnen ist der Weg ins Gymnasium versperrt. Aber ohne Abitur kannst du weder Arzt noch Jurist oder Journalist werden. Wir sind eine verlorene Generation. Deshalb halten wir zusammen. Zusammen geht es leichter. Untereinander sprechen wir russisch. Wir verstehen hier vieles nicht. ...Wer kann uns erklären, dass ein Vater, der in Russland 30 Jahre als Kraftfahrer gearbeitet hat, hier wieder einen Führerschein erwerben und dafür nicht wenig bezahlen muss? ...Warum werden eigentlich hier die Diplome unserer Lehrer nicht anerkannt? ...Sie schreiben dass es erniedrigend ist, wenn Sie zusehen müssen, wie wir ziellos und müßig durch die Stadt schlendern. Auch für uns ist es erniedrigend und bitter, die ausweglose Situation unserer Eltern ansehen zu müssen. Ein hervorragender Fachmann, plagt sich mit seiner Tatenlosigkeit herum. ...Er kann es nicht mehr verstehen, warum er überhaupt gekommen ist und uns mitgenommen hat. Er ist hergekommen, weil viele unter dem Eindruck der Massenpsychose gekommen sind. Alle wandern aus, also wandern auch wir aus. ...Sagen Sie, dass man den Menschen die Wahrheit über Deutschland schon in Russland und Kasachstan sagen muss, ... ganze Verantwortung bei der Ausreise muss abgewogen werden, besonders im Hinblick auf die Kinder. ... Befreit sie von rosaroten Illusionen. ... Wir werden nicht so schnell anders. Das muss man verstehen. Aber man muss uns zur Kenntnis nehmen, denn wir sind schon hier.
Danke für Ihren Brief. Er hat uns die Möglichkeit gegeben, das zu sagen, was uns auf der Seele brennt. ... Unsere erste und konkrete Arbeit soll der Kampf gegen Rauschgift und gegen die sein, die es verbreiten. Wir kommen dabei ohne Polizei aus. Das schaffen wir selbst.
... dass dieser Brief nicht von allen jungen Aussiedlern kommt. Wir haben unterschiedliche Schicksale und freuen uns über die, bei denen alles in Ordnung ist."