Auswanderung der Deutschen
Teil IV 1955 bis Heute
5 Neubeginn in Deutschland
5.8 Jugendliche
5.8.1 Schule
5.8.1.1 Schulsituation aus der Sicht russlanddeutscher Schüler
Irina Maslowa:
"Was die Art und den Inhalt des Unterrichts anbetrifft, habe ich beim Wechsel von der Schule in Kasachstan zur deutschen Schule keine allzu großen Unterschiede festgestellt. Die Lehrpläne für die fünfte Klasse zum Beispiel waren aber vollkommen unterschiedlich. In Kasachstan erschien mir der Unterricht insgesamt intensiver und der Lehrplan mit mehr Inhalt gefüllt zu sein. Ich glaube, dass wir da mehr zum Lernen angehalten wurden. Hier in Deutschland fällt mir vor allem ein Unterschied sehr stark auf: Das Lehrer-Schüler-Verhältnis ist anders, es ist viel lockerer und legerer. Ich finde das nicht immer in Ordnung. Was sich hier manche gegenüber den Lehrern herausnehmen, das habe ich in Kasachstan nicht erlebt. Auch dort gibt es aufsässige Typen unter den Schülern. Doch selbst diese trauen sich nicht das, was hier viele drauf haben. In Deutschland sprechen die Jugendlichen mit weit weniger Respekt über oder mit Erwachsenen. Erwachsene einfach zu duzen, wie das hier oft geschieht, war bei uns in Kasachstan undenkbar. Dort hat man mehr Achtung vor den anderen..., mehr – wie soll ich es sagen – mehr Ehrfurcht, besonders gegenüber älteren Leuten."
Witalina Poljakowa:
"Als wir im April 1998 aus Osjorsk weggingen, war ich am Ende der 9. Klasse. Nach dem wenig erfolgreichen Deutschkurs bin ich dann hier im Januar 1999 in die 8. Klasse einer Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe gekommen. Dort musste ich von heute auf morgen ohne große Unterstützung zurechtkommen. Und das hat erstaunlicherweise auch schnell geklappt. Von der fachlichen Seite hatte ich überhaupt keine Probleme. In Russland wird in der Schule mehr Wissen vermittelt, vor allem in Mathematik und den naturwissenschaftlichen Fächern. Die Lehrer sind strenger. Es herrscht dort mehr Disziplin als hier. In der Praxis habe ich sehr schnell und gut Deutsch gelernt. Andere sagen, dass ich schon sehr gut spreche, nur ein kleiner Akzent ist noch vorhanden.
Ich bin jetzt in der 10. Klasse. Meine Leistungen in den einzelnen Fächern sind gut. Ich bin ehrgeizig. Und noch immer kann ich auf das zurückgreifen, was ich an Wissen mitgebracht habe. In der 10. Klasse nehmen wir hier Unterrichtsstoff durch, den ich schon in Russland gelernt habe. Die einzigen Ausnahmen sind Englisch und Französisch. Diese Fremdsprachen sind für mich neu. Kompliziert war und ist es für mich noch immer, den Rückstand in Englisch aufzuholen. Meine Mitschüler haben schon seit der 5. Klasse Englisch; ich hingegen habe damit erst in der 8. Klasse angefangen. Die Schule hat mir leider nicht sehr geholfen, den Rückstand wettzumachen. Meine Mutter und mein Stiefvater unterstützen mich auch in den schulischen Dingen sehr. Bei einem Privatlehrer nehme ich zusätzliche Unterrichtsstunden in Englisch.
Mit meinen Mitschülern hatte ich keine größeren Probleme, besonders mit den Jungs nicht. Sie nahmen mich freundlich und kameradschaftlich auf. Nur manche Mädchen waren mir gegenüber zunächst ziemlich reserviert und zuweilen sogar ablehnend. Sie nahmen es mir übel, dass ich ehrgeizig bin und gute Ergebnisse erreichen möchte. Mittlerweile hat sich das etwas normalisiert. Offenbar akzeptieren sie mich nun so, wie ich bin."
Oleg Hoffmann:
"In Berlin war für mich das Wichtigste, möglichst schnell Deutsch zu lernen. Ich war mir von Anfang an klar darüber, dass gute Sprachkenntnisse der Schlüssel dafür sind, mich mit der fremden Wirklichkeit vertraut zu machen. Von Oktober 1994 bis März 1995 besuchte ich einen Kurs in der Otto-Benecke-Stiftung. Da habe ich viel gelernt. Wir wurden in Leistungsgruppen eingeteilt. Im Unterricht wurden moderne Methoden der Sprachvermittlung eingesetzt. Nach Beendigung des Kurses glaubte ich, schon ziemlich gut Deutsch zu können. Doch in der Praxis zeigte sich bald, dass ein sechsmonatiger Kurs, auch wenn er gut ist, dafür nicht ausreicht. Mein Wortschatz war für den Alltag und für das Studium noch zu klein. Auch mit der Aussprache haperte es. Oft wurde ich nicht verstanden, andere mussten nachfragen. Mir blieb nichts anderes übrig, als selbst weiter an der Sprache zu arbeiten."
(Kulturarchiv der Russlanddeutschen)