Geschichte der Russlanddeutschen

Auswanderung der Deutschen

Teil 1 1763 - 1820

4 Ankunft im Siedlungsgebiet

4.1.1 Von Lübeck nach Oranienbaum

Lübeck war für die meisten Kolonisten die letzte Reisestation auf deutschem Boden. Von hier aus organisierte der im Dienst der russischen Regierung stehende Kaufmann Christoph Heinrich Schmidt die Weiterfahrt über die Ostsee nach St Petersburg. Nach seinem Tod übernahm der Lübecker Jurist Gabriel Christian Lemke ab dem 30. Mai 1766 diese Aufgabe.
segelschiff

Bereits im Januar 1764 empfahl das Kollegium für Auswärtige Angelegenheiten in St. Petersburg den Seeweg als die geeignetste Reiseroute für den Transport von Kolonisten. Der Landweg hatte sich nicht nur als zu lang erwiesen, er war auch zu teuer. Die Vorstellung, die in Lübeck verfügbaren Schiffe würden für den Transport ausreichen, musste angesichts der Aussiedlerzahlen allerdings bald korrigiert werden. Es erwies sich als notwendig, auch Schiffe aus Kiel und Neustadt sowie sogar aus England unter Vertrag zu nehmen. Daneben kamen auch russische Schiffe zum Einsatz. Die so genannten Paketboote und Pinken, die eigentlich nicht für einen Personentransport konstruiert worden waren, brachten rund 3.100 Kolonisten nach Russland. Insgesamt traten über 22.000 Menschen von Lübeck aus ihre Reise nach Russland an.

Die Aussiedlertrecks kamen entweder über Regensburg – Weimar – Lüneburg nach Lübeck oder sie fuhren zunächst von Worms den Rhein abwärts, um dann durch Westfalen und Hannover auf dem Landweg in die Hansestadt zu gelangen.

In Lübeck angekommen, mussten sich die Kolonisten wegen des großen Andrangs auf eine längere Wartezeit einrichten. Den Vermögenderen unter ihnen wies der Kommissär Schmidt eine Unterkunft in einem der Bürgerhäuser zu. Die anderen wurden in Baracken in der Nähe des Hafens untergebracht. Diese Gebäude wurden streng bewacht, um Fluchtversuche zu unterbinden.

Während der Wartezeit erhielten die Kolonisten ein Tagegeld, das nach Geschlecht und Alter differenziert war. Männer erhielten pro Tag 8, Frauen 5, Kinder 3 und Kleinkinder 1 Schilling. Das Geld und die Nahrungsmittel wurden von ausgewählten Männern ausgeteilt, denen Amtsbezeichnungen wie "Schulze", "Vogt" oder "Vorsteher" gegeben wurden.

In Lübeck war das große Echo auf das Angebot der Zarin Katharina II. in seinem ganzen Ausmaß erkennbar. Bereits 1765 warteten hier Tausende Menschen auf ihre Einschiffung.

Die damals im Einsatz befindlichen Schiffe waren in der Lage, 280 Passagiere zu befördern.

Endlich eingeschifft, stand diesen Menschen gewöhnlich eine Seereise von neun bis elf Tagen bevor. War das Wetter ungünstig (Flauten oder Stürme), so konnte die Schiffsreise aber auch sechs Wochen dauern, so dass Brot und Wasser knapp werden konnten. Es gab aber auch immer wieder Kapitäne, die die Reise künstlich in die Länge zogen, um so die Kolonisten zu zwingen, ihr gesamtes für zwei Wochen berechnetes Reisegeld für den Kauf von Proviant auszugeben.

Bernhard Ludwig von Platen link beschreibt in seinem 1766-67 entstandenen Poem link "Reise-Beschreibungen der Kolonisten wie auch Lebensart der Rußen" diese Seereise.

Nach einer zweiwöchigen Wartezeit in Lübeck wurde von Platen mit anderen Kolonisten eingeschifft:

  "Da ward ein jeder Mann/Mit Brofiant versehen/Und so nach Petersburg/Ins Schiff hinein zu gehen/Allein condrerer Wind/Macht uns die Reise schwer/Das Brofiant ging auf/Die Taschen wurden leer. Sechs Wochen mußten wir/Die Wasserfahrt ausstehen/Angst, Elend, Hungersnoth/Täglich vor Augen sehen/Also daß wir zuletzt/Salz-Wasser, schimmlich Brod/Zur Lebens unterhalt /Er- hielten kaum zur Noth."

Wäherend dieser Seereisen waren auch die ersten Toten zu beklagen.

Der Bäckermeisters Johannes Hühn aus Gelnhausen gab 1766 zu Protokoll, dass er mit dem Ehepaar Dölck und dessen beiden Töchtern auf einem Seefahrzeug des Schiffers Jakob Bauer von Lübeck nach Russland transportiert worden sei. Am zweiten Tag der Überfahrt seien die Töchter, die er sehr gut gekannt habe, an einer auf dem Schiff ausgebrochenen verheerenden Krankheit gestorben. Die Toten wurden der Gewohnheit nach vor seinen Augen in das Meer gelassen.

In Kronstadt, einer Festung vor St. Petersburg, angekommen, ging die Reise sofort nach Oranienbaum, dem heutigen Lomonossow, weiter. Dort konnten sich die Kolonisten gegen Vorlage einer vom Vorsteher ausgegebenen Bescheinigung - eines Billets - mit neuer Kleidung ausstatten.

Während ihres dortigen Aufenthaltes, dessen Dauer unbestimmt war, leisteten sie auch den Treueid auf die russische Krone.

Die Reise in die neuen Siedlungsgebiete ging weiter von Oranienbaum an die Wolga.
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