In den vorangegangenen rund 150 Jahren ihrer Existenz im Russischen Reich und unter der Sowjetmacht waren die Russlanddeutschen nicht zur freiwilligen Assimilation bereit gewesen. Nur durch Gewalt waren sie jetzt dazu gezwungen, d.h. durch Vertreibung und Zerstreuung, durch Entzug ihrer ethnischen Identitätsmerkmale wie Gebrauch der deutschen Muttersprache und Ausübung ihrer Religion.
Wie die Karte der Sowjetunion mit den vielen größeren und kleineren deutschen Siedlungsgebieten nach dem Zweiten Weltkrieg anschaulich zeigt, lebten die Russlanddeutschen zerstreut über weite Gebiete der UdSSR.
Sie lebten sowohl in rein deutschen Siedlungen, meist abgesondert von anderen Völkern, als auch in gemischten Siedlungen und unter Angehörigen anderer Nationen wie Russen, Ukrainern, Bulgaren, Griechen, Kurden, Esten, Letten, Litauern, Krimtataren, Kalmyken, Tschetschenen, Inguschen und auch in kasachischen Dörfern und zu großen Industrieobjekten gehörenden Werksiedlungen.
Hier trafen die Deutschen auf ihnen völlig fremde Kulturen, Lebensweisen und Religionen. Gleichzeitig war ihnen die Pflege ihrer eigenen Kultur, Lebensweise und Religion verboten oder aufgrund des nicht mehr gegebenen Gemeinschaftslebens einfach nicht mehr möglich. Sie waren – und blieben auch über das Ende der Kommandanturzeit hinaus – Vertriebene innerhalb der Sowjetunion, ohne das "Recht auf Rückkehr an ihre einstigen Wohnorte"
(siehe entsprechenden Ukas bei Pkt. 6.1).
Auch nach dem Krieg hatten Russlanddeutsche Benachteiligungen im öffentlichen Leben. Unter der einheimischen Bevölkerung hatten sie einen schweren Stand. Von der Propaganda, in den Medien tagtäglich von neuem an den Pranger gestellt, wurden sie als Angehörige des Feindstaates angesehen, der den Russen und anderen Völkern unendliches Leid zugefügt hat – dessen Angehörige sie aber nicht waren! Russlanddeutsche galten als "Faschisten", "Fritzen" und Vaterlandsverräter. Sie wurden beschimpft, verachtet und offen oder verdeckt ausgegrenzt.
Über konkrete Erlebnisse und Erfahrungen aus dieser Zeit berichten uns einige Zeitzeugen:
Lora Richter ,
Frieda Reinhardt ,
Lyly Rupp und
Viktor Ring
Um den Verunglimpfungen und Diskriminierungen aus dem Wege zu gehen zogen, es viele, vor allem die Jüngeren, vor, ihre deutsche Herkunft zu verschweigen.
Schließlich war der Anpassungsdruck an die nichtdeutsche Umwelt permanent und eine erneute "deutsche Perspektive" war zu dieser Zeit nicht in Sicht. Durch das alltägliche Zusammenleben mit den Russen und anderen Einheimischen, den Umgang mit den russisch sprechenden Behörden, das Fehlen eines deutschsprachigen Unterrichts sowie das Fehlen von Zeitungen, Büchern in der deutschen Muttersprache war die sprachliche Russifizierung weit fortgeschritten.
Erst 1957 erschienen in Moskau die Wochenzeitschrift "Neues Leben" und in Slawgorod die Kreiszeitung "Rote Fahne"; Radio Alma-Ata strahlte die erste Rundfunksendung in deutscher Sprache aus. Diese Veränderungen standen im Zusammenhang mit neuen Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland. Die Entwicklung dieser Beziehungen und die direkten Auswirkungen auf die Russlanddeutschen bis in die Gegenwart sind Gegenstand des Teils IV.