Geschichte der Russlanddeutschen

Auswanderung der Deutschen

Teil III 1917 - 1955

1. Die Oktoberrevolution und ihre Auswirkungen auf die Russlanddeutschen

1.7 Kampf um die Sicherung der bolschewistischen Macht in den Jahren 1918 bis 1920

1.7.2 Die Folgen des Kriegskommunismus für die Russlanddeutschen

Für die russlanddeutschen Bauern erwies sich die Politik des Kriegskommunismus als eine genauso schwere Bürde wie für die ganze Bauernschaft Sowjetrusslands. Da die Kolonien zu den Marktgetreide produzierenden Gebieten gehörten, zu denen die Sowjetmacht unter den Bedingungen des sich ausweitenden Bürgerkriegs noch Zugriff hatte, waren die Bauernwirtschaften hier von den außerordentlichen Maßnahmen der Getreidebeschaffung u.a. besonders betroffen. Das galt namentlich nach Einführung der "Lebensmitteldiktatur", die die allgemeine Ablieferungspflicht für Getreide einschloss (Mai 1918).

Zur Durchsetzung dieser Zwangsmaßnahmen organisierte die Sowjetmacht die Gründung von "Komitees der Dorfarmut" (u.a. aus demobilisierten Soldaten, entwurzelten Industriearbeitern, landlosen oder landarmen Bauern). Unter der Devise, der Klassenkampf müsse auf das Land getragen werden, unterstützten sie die Beschaffungskommandos bei der zwangsweisen Eintreibung von Getreide. "Der Kreuzzug für das Getreide" wurde zur zentralen Aufgabe des Kampfes um die Macht.

Obwohl sich die Kolonistenbauern, insbesondere die an der Wolga, an die Ablieferungspflicht hielten und das "Soll" sogar übererfüllten, kam es zu weiteren Requirierungen. Diese Beschaffungspolitik gipfelte schließlich darin, dass man den Bauern oftmals auch die allerletzten Vorräte – das Saatgetreide – abnahm. So konnten 1919/1920 nur noch kleine Flächen eingesät werden. Trotz der sich verringernden Ernteerträge wurden die Zwangsablieferungsquoten erhöht. Als dann im Wolgagebiet 1920 noch eine Missernte eintrat, war die Katastrophe da – es kam zu einer bis 1923 andauernden furchtbaren Hungersnot mit zahlreichen Opfern auch unter den deutschen Bauern. siehe hier link

Unter den Bauern sowohl in den russischen Dörfern als auch in den deutschen Kolonien kam es zu spontanen Aufständen gegen die unerträglichen Praktiken der Getreiderequirierungen. Anfang April 1918 erhoben sich wolgadeutsche Bauern in der Gegend von Schaffhausen. Bei der von Rotarmisten und Arbeiterabteilungen durchgeführten Requirierung erschoss der Selbstschutz 19 Rotarmisten. Die blutige Abrechnung folgte wenige Tage später, als eine stärkere Einheit Rotarmisten zahlreiche Bewohner der Kolonie niedermetzelte und die Kolonien vollständig ausraubten. Zu einem erneuten blutigen Aufleben der Aufstände kam es im März 1921 – ein deutliches Zeichen für die Krise des Kriegskommunismus am Ende des Bürgerkrieges. Zeitgleich mit anderen russischen Aufstandsaktionen im Lande gegen die Bolschewiki gab es in den Kolonien Grimm, Mariental, Staub und Warenburg die blutigste Bauernerhebung seit Beginn der sowjetischen Herrschaft. Etwa 100 Kommunisten sind dabei umgekommen. Mitte April waren auch im Kreis Seelmann alle Kommunisten und Sowjetfunktionäre ermordet worden. Nach der Wiederherstellung der Sowjetmacht wurde ein "Revolutionstribunal" nach Mariental beordert, das zahlreiche Hinrichtungen veranlasste.

Schließlich hatten Anfang 1921 die Verwüstungen des Bürgerkrieges sowie die Wirtschaftspolitik des "Kriegskommunismus" mit ihrer Zwangsbewirtschaftung zum totalen Ruin der Landwirtschaft geführt. Aber auch die Industrie lag am Boden und viele Betriebe mussten stillgelegt werden, weil infolge der überstürzt durchgeführten Verstaatlichungen die qualifizierten Fachkräfte fehlten, um die Produktion in Gang zu halten, Rohstoffe und Zulieferungen ausblieben und zahlreiche Arbeiter wegen fehlender Nahrungsmittelversorgung die Städte verlassen hatten.

Um das Land vor dem endgültigen Zusammenbruch zu bewahren waren die Bolschewiki zu einem "taktischen Rückzug" genötigt – zur "Neuen Ökonomischen Politik" (NÖP), die tiefgreifende Veränderungen auch im Leben der deutschen Bauern bewirkte (siehe dazu auch Russlanddeutsche in der Sowjetunion der 20er Jahre link).
 
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