Geschichte der Russlanddeutschen

Auswanderung der Deutschen

Teil III 1917 - 1955

Die Russlanddeutschen unter der Sowjetmacht

3 Stalinistische Herrschaft und Russlanddeutsche

3.2 Stalinistische Säuberung

3.2.4 Stalinistischer Terror gegen die deutsche Bevölkerung in der Ukraine

Jede Operation des NKWD traf auch eine große Zahl von Ukrainedeutschen. Unter ihnen fand man Anhänger der Ansichten Trotzkis und Sinowjews. Operationen trafen Menschen, die sich nur oppositionell geäußert hatten oder als gläubig bzw. als Anhänger verschiedener vorrevolutionärer Parteien bekannt waren, außerdem Verwandte und Freunde schon Verfolgter sowie Personen, die sich mit Ausländern getroffen hatten. Schließlich reichte es aus, Deutscher zu sein, um verhaftet zu werden.

Die angespannten Beziehungen zu Deutschland sowie die Ausrichtung der Politik der sowjetischen Führung auf die Zerschlagung des Faschismus in allen seinen Erscheinungsformen hatten zur Folge, dass die NKWD-Organe bestrebt waren, Kontakte der Deutschen zu Deutschland aufzuspüren, was nicht schwierig war. Zur Organisation dieser Arbeit gliederte das NKWD eine besondere "deutsche Linie" aus, in den Staatssicherheitsverwaltungen gab es Unterabteilungen, die sich mit den Deutschen befassten.

Archivalien aus den NKWD-Beständen gewähren Einblick in die "Technologie" der Erfindung so genannter Spionagefälle aufgrund der nationalen Zugehörigkeit.

Am 12. Juli 1938 weilte der Volkskommissar des Innern der Ukraine, Uspenskij, in Zaporozh'e. Während einer operativen Beratung in der Stadtabteilung des NKWD erklärte er, in Zaporozh'e würden "hinter den Wänden der Stadtabteilung Spione herumspazieren", die Stadtabteilung wolle "das Lager der Spione nicht aufspüren" und liege "auf der faulen Haut". Der Volkskommissar forderte die Festnahme von 1.000 Personen innerhalb eines Monats.

Von den NKWD-Mitarbeitern wurde die Erstellung von Listen der zu verhaftenden Personen verlangt. Die Führung wollte nichts wissen von fehlenden Tatbeständen. Es galt das Prinzip: jeder ist irgendwie belastet. Man muss nur zielstrebiger handeln. Kriminelle Tatbestände sind möglichst saftig zu beschreiben: Wenn wir von einem Wort wissen, machen wir einen Satz daraus. Erst einmal festnehmen, belastendes Material wird sich schon finden.

Als Grundlage für die Verhaftung von Deutschen dienten folgende Beschuldigungen: "sammelt Klassengegner um sich", "ist verdächtig aufgrund seiner Verbindungen", "wirkt zersetzend", "eingefleischter Bummelant, ist bestrebt, der deutschen Jugend Spekulantenmethoden schmackhaft zu machen", "eine auffallend antisowjetisch eingestellte Person, desorganisiert die Produktion, ist raffgierig", "agitiert systematisch gegen Maßnahmen der Sowjetmacht, so gegen die Anleihe des ersten Jahres des 3. Fünfjahrplanes", "verteidigte repressierte Klassenfeinde", "zerriss demonstrativ Lose der OSO [Gesellschaft zur Stärkung der Verteidigungsmacht] und weigerte sich, Geld dafür zu zahlen", "suchte zu beweisen, dass die Staatsanleihe reinste Geldschneiderei sei", "diskreditiert die Ideen der Kollektivierung, indem er erklärt, die Kolchosen seien nichts anderes als Frondienst", "ist gegen die Wahlen und sagt, dass die Wahlen den Deutschen nichts bringen werden", "ist ein Schädling, erzeugt Ausschussware", "betreibt Augenwischerei", "tendiert zu aufständischen und terroristischen Auffassungen", "Antisemit, verhöhnte jüdische Arbeiter", "sabotierte den Zirkel zum Studium des Wahlgesetzes", "in den an Verwandte im Ausland gerichteten Briefen verbreitet er Verleumdungen und Lügen über das angeblich elende Leben der Arbeiter, über den angeblichen Hunger u. a. m.", "Sagte, dass die deutsche Nation unter der Sowjetmacht Verfolgungen ausgesetzt ist", "nach noch unbestätigten Meldungen versteckt er sich unter fremdem Namen" u. ä.

In die Listen der zu verhaftenden Personen wurden in erster Linie Deutsche und Polen aufgenommen. Mitarbeiter der Stadtabteilung des NKWD erfragten die Namen von Personen dieser Nationalitäten in den Personalabteilungen der Betriebe. Mit Hilfe der Parteiorgane wurde geklärt, ob gegen die Betreffenden kompromittierendes Material vorlag, ob sie vielleicht schlecht arbeiteten oder irgendwie unzufrieden waren.

Aufgrund der operativen Angaben wurden Meldungen weitergeleitet und Listen erstellt, die vom Leiter der Gebietsverwaltung des NKWD oder vom Volkskommissar des Innern bestätigt wurden. In einer derartigen Meldung ist zu lesen: "Dirksen, P. Ja., eingefleischter deutscher Nationalist. Zwei Söhne von ihm wurden wegen konterrevolutionärer faschistischer Tätigkeit repressiert. Dirksen selbst verwahrte bei sich zu Hause Schriften konterrevolutionären faschistischen Inhalts. Dirksen diskreditiert die Nationalitätenpolitik der Partei und der Sowjetmacht, verherrlicht die faschistische Gesellschaftsordnung in Deutschland, sät in der deutschen Bevölkerung defätistische Ideen ... ist zu verhaften." – "Chintop [?], R. T. – entstammt einer Kulakenfamilie. In seinem Haß gegen die bestehende politische Ordnung bearbeitet er die deutsche Bevölkerung im Geiste des Antisowjetismus, sucht sie von der Notwendigkeit der Bekämpfung der Sowjetmacht und der Vorbereitung terroristischer Maßnahmen zu überzeugen."

In den Listen wurden Name, Vor- und Vatersname und unbedingt auch die Volkszugehörigkeit angegeben. Die Anweisung über der Namensliste lautete "verhaften". Manchmal wurden Verhaftungen per Telefon genehmigt.

Die Verhaftungen wurden hauptsächlich in der Nacht vorgenommen. Während der Massenoperationen in den deutschen Dörfern im Juni 1938 wurden sie von Milizangehörigen durchgeführt, denen operative Mitarbeiter der Staatssicherheitsverwaltung zugeteilt wurden. So verhaftete man im Dorf Nieder-Chortica am 16. Juli 1938 16 Personen, am 17. Juli nahm man im Dorf Kitas bis 8 Uhr morgens 30 Personen fest.

Es gab so viele Verhaftete, dass die vorhandenen Gefängniszellen sie nicht fassen konnten. Die Leute wurden direkt im Hof der Stadtabteilung des NKWD unter freiem Himmel festgehalten. Während der Ermittlungen wurden die Verhafteten in Gruppen eingeteilt. Nun galt es, ein Schema der konterrevolutionären Organisation zu erstellen und deren Anführer zu benennen. Jeder Ermittlungsbeamte entwickelte für sich ein Verbindungsschema, in dem festgehalten wurde, wer wen angeworben habe. Entsprechend wurden die Vernehmungsprotokolle ausgefertigt.

Bevor die Aussagen zu Protokoll kamen, teilte man dem Verhafteten in einem Vorgespräch mit, in welcher antisowjetischen Organisation er mitgewirkt habe, mit wem er in Verbindung stehe, wer ihn angeworben habe usw. Nach einem im voraus erstellten Schema kamen die im selben Dorf verhafteten Deutschen in ein und dieselbe Organisationsfiliale. In Städten wurden die jeweiligen Gruppen aufgrund der Betriebszugehörigkeit ihrer Mitglieder gebildet. Dabei schrieb man die Leitung aller Gruppen einem Deutschen namens Koop zu, der in den Plänen des NKWD der Zentrale vorstand. Auf diese Weise wurden mehr als 200 Deutsche verhaftet.

Nach dem erfolgreichen Abschluss der Operation gegen die Deutschen entwarf die Stadtabteilung "ein schauderhaftes Bild des Eindringens des deutschen Nachrichtendienstes in die Industriestadt Zaporozh'e": A. A. Koop sei ein vom Major des deutschen Nachrichtendienstes Sievert angeworbener Agent. Vor der Revolution hätte er Kontakte zum deutschen Konsul Maibach unterhalten. Auf Koops Anweisung seien bereits während des Ersten Weltkrieges zwei Rüstungsbetriebe niedergebrannt worden. Seit 1928 habe Koop den Auftrag erhalten, in den mennonitischen Gemeinden deutsche Nationalisten zwecks subversiver Tätigkeit gegen die Sowjetmacht um sich zu scharen. Er habe ständige Kontakte zum Nachrichtennetz unterhalten, dorthin die ausgekundschafteten Daten übermittelt und schließlich ein faschistisches Spionagezentrum eingerichtet. Im Falle eines Krieges sei der erfahrene Spion verpflichtet, den feindlichen Flugzeugen Signale zu geben. Dazu halte er bei sich eine "große Petroleumlampe" versteckt.

Diese Hirngespinste dienten als Grundlage für die Ausgliederung der so genannten deutschen Linie, d. h. für alle verhafteten Deutschen wurde eine einzige Akte angelegt. Es galt das Prinzip: "Hauptsache, man kennt wenigsten einen der Verhafteten."

Die Tschekisten, die sich an dieses Prinzip hielten, legten eine Mappe für insgesamt 268 Personen an. Als Betreuer zeichnete der Leiter der "deutschen" NKWD-Abteilung im Gebiet Dnepropetrovsk. Die "Album-Listen" wurden zur Bestätigung nach Moskau geschickt. Die Leitung der Gebietsverwaltung stellte zufrieden fest, dass das Kontingent zu Recht in die Alben gehöre. Auch in der Staatsanwaltschaft gab es keine Einwände.

Das die Akte Koop nicht die einzige war, bezeugen die Angaben über andere Ermittlungen. So über die Akte Nr. 79557, Tatbestand "deutsche Spionage, Gruppe Warkentin (127 Personen). Die Angelegenheit wurde im Dreier-Gericht der NKWD-Verwaltung des Gebiets Dnepropetrovsk verhandelt."

Im Jahre 1939 machten die Ermittlungsbeamten, die der Aktenfälschung beschuldigt wurden, folgende Aussagen:

  "Frage: Wurden Listen für Verhaftungen nach Volkszugehörigkeit erstellt? – Antwort: Es gab eine Anweisung von Uspenskij, dem polnischen und deutschen Nachrichtendienst die Basis zu entziehen, daher seien die Polen und Deutschen ohne Rücksicht darauf, ob nun für die Verhaftung ausreichendes Material vorliege oder nicht, zu verhaften. Das war der Grund dafür, weshalb bei der Verhaftung von Polen und Deutschen ihre Volkszugehörigkeit die dominierende Rolle spielte."

In den Jahren 1937/38 wurden tausende Russlanddeutsche im Zuge der Säuberungswelle nicht nur verhaftet, sondern auch erschossen link. Die formaljuristische Grundlage dafür lieferte der § 58 link des Strafgesetzbuches der UdSSR. Über das Schicksal der Verhafteten erhielten die Familien erst Jahrzehnte später Auskunft.
 
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